Vor dem düsteren Hintergrund der Gedenkveranstaltungen zum hundertsten Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs erleben wir in diesem Sommer immer wieder, wie begrenzt die Möglichkeiten und wie fragwürdig die Erfolge bei der Entschärfung regionaler Krisen und bei der Vermeidung von kriegerischen Auseinandersetzungen sind. Es wird geschossen in der Ostukraine und im Gazastreifen, in Syrien und Libyen, Irak und Afghanistan. Man darf auch die von dem Historiker Christopher Clark in seiner Salzburger Rede hervorgehobenen Gefahren hinsichtlich der territorialen Streitigkeiten zwischen den Nuklearmächten in Asien nicht übersehen.

Trotz der von Clark gelobten "Sicherheitsarchitektur der Schlichtungsinstanzen" (wie die OSZE, G-8, Europäischer Rat) besteht die Gefahr, dass die Existenz der Ukraine, eines der größten Staaten Europas, nicht mehr gerettet werden kann und dass die Krise außer Kontrolle gerät. Vier miteinander verbundenen Faktoren bestimmen die seit dem Abschuss der malaysischen Passagiermaschine mit 298 Toten drohende Eskalation ins Unkontrollierbare:

a) Nichts deutet bisher - trotz der von westlichen Geheimdiensten verbreiteten Gerüchte - auf eine echte Kompromissbereitschaft Präsident Wladimir Putins hin, der seit der Annexion der Krim und während der von ihm persönlich massiv unterstützten separatistischen Gärung in der Ostukraine noch immer von 80 Prozent der vom unabhängigen Levada-Institut befragten Russen unterstützt wird. Die Rolle der "russischen Freiwilligen" in der Ostukraine gefällt 64 Prozent der Befragten. Angesichts der unkontrollierbaren Dynamik der von ihm entfachten antiwestlichen nationalistischen Welle könnte für Putin eine vom Westen geforderte Kehrtwendung bei wirtschaftlichen Rückschlägen infolge schärferer westlicher Sanktionen noch zu einem machtpolitischen Problem werden.

b) Trotz "Schocks und Trauer" nach dem Abschuss des zivilen Flugzeugs haben die handfesten Wirtschaftsinteressen und die unterschiedlichen innenpolitischen Tendenzen in den 28 EU-Mitgliedsstaaten eine schnelle und schlagkräftige Antwort auf die russische Herausforderung bisher vereitelt. Möglicherweise schätzt Putin den Nutzen aus einer vertieften Spaltung der Europäischen Union höher ein als die Kosten der Sanktionen.

c) Obwohl die USA nach wie vor die Schutzmacht und wichtigster Partner des demokratischen Europas bleibt, hat der Spionage- und Abhörskandal die anfängliche Popularität des seit fünfeinhalb Jahren amtierenden US-Präsidenten fast gänzlich zerstört und das Vertrauen in dem amerikanischen Bündnispartner - nicht nur in Deutschland - erschüttert. Die zum Teil berechtigte Washingtoner Kritik am bisherigen EU-Beschwichtigungskurs verpufft wegen der Verschlechterung des Verhältnisses fast wirkungslos.

Die Streitigkeiten und Fraktionskämpfe innerhalb der korrupten ukrainischen politischen Klasse, das ist Punkt d), ermöglichen keine einheitliche Linie bei der Bekämpfung der radikalen und von Moskau aus gesteuerten Separatisten und bei der angestrebten schwierigen Versöhnung mit der Mehrheit der russischsprachigen Bevölkerung.

Viel steht auf dem Spiel und die Gesichtswahrung beider Seiten, der Europäischen Union und Russlands, in der Konfrontation wird immer schwieriger. (PAUL LENDVAI, DER STANDARD, 29.7.2014)