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Ein junger Palästinenser in Beit Lahia im nördlichen Gazastreifen am Grab seines Bruders, der nach Angaben von Medizinern bei einem israelischen Angriff getötet wurde.

Foto: Reuters/Salem

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Hunderte Muslime beten in engen Reihen in der Kirche des Sankt-Porphyrios-Klosters der Erzdiözese Gaza. Die 150 muslimischen Familien sind aus den umkämpften Gebieten des Gazastreifens geflüchtet und haben in dem griechisch-orthodoxen Kloster Zuflucht gefunden. Weil auf den Straßen gekämpft wird, versammeln sie sich zum Freitagsgebet in der Kirche. "Muslime und Christen leiden gleichermaßen unter der Bombardierung", sagt eine 32-jährige muslimische Frau, die aus dem völlig zerstörten Viertel Shajaiya ins Kloster geflüchtet ist. Im Arm hält sie ihr Baby, das am dritten Tag des Krieges zur Welt kam und Issa, Jesus, heißt.

Überlebenspakete für Kloster

Am Samstag nutzte die Hilfsorganisation Islamic Relief die Feuerpause, um die 700 völlig mittellosen Flüchtlinge in der Kirche mit Lebensmitteln, Wasser, Decken und Medikamenten zu versorgen. Vor dem Innenhof des Klosters steht ein Lkw, der Überlebenspakete liefert. Rami Mahani von Islamic Relief warnt vor einer humanitären Katastrophe: "Seit Beginn der Angriffe vor fast drei Wochen gibt es 200.000 Flüchtlinge. Sie bei Rekordtemperaturen um 35 °C und der anhaltenden Blockade des Gazastreifens ausreichend zu versorgen ist nahezu unmöglich."

Während der Waffenruhe zeigt sich das wahre Ausmaß der Zerstörungen. Die oberen Stockwerke eines Wohnhauses in der Umar-al-Mukhtar-Straße, der Hauptstraße von Gaza-Stadt, sind vollständig zerstört. Das zerbombte Haus heißt Burj Assalam, Friedensturm. In diesem Haus wurden am 21. Juli sieben deutsche Staatsbürger und fünf Palästinenser getötet, als zur Zeit des Fastenbrechens um 19.45 Uhr eine Rakete der israelischen Streitkräfte einschlug. Die Toten von Gaza haben Namen: Ibrahim Kilani, 53, seine Frau Taghreed, 45, ihre Kinder Yasin Ibrahim, 9, Yaser, 8, Elyas, 4, und Sawsan, 11. Die Kilanis stehen auf der Liste der Todesopfer, die das Gesundheitsministerium von Gaza seit Beginn des Krieges am 8. Juli führt, an 555. bis 561. Stelle.

Eine ganze Familie

Die Toten von Gaza hatten ein Leben: Ibrahim war ein angesehener Architekt und in viele große Bauprojekte im Gazastreifen involviert. Hatem Ragab, 52, von Beruf Ingenieur bei der Kommunalverwaltung der Palästinensischen Autonomiebehörde, ist Ibrahims Freund. Beide Familien mussten aus ihrer heftig umkämpften Heimatstadt Beit Lahia im Norden des Gazastreifens nach Gaza-Stadt fliehen, wo sie sich in Sicherheit wähnten. Hatem, der als Nachbar die Bombardierung des Friedensturms miterlebte, ist wütend: "Zwölf Menschen, Zivilisten, wurden hier kaltblütig von Israelis ermordet. Im Friedensturm waren keine Kämpfer."

Das moderne Hochhaus steht im Reichenviertel des Gazastreifens, das Beverly Hills genannt wird. Hier leben Geschäftsmänner mit Kontakten in die Emirate oder eben auch ein erfolgreicher deutscher Architekt. "Die Eigentümer sind um das Wohl ihrer Luxusimmobilien besorgt", bestätigt ein Anwohner, "sie würden niemals einem Kämpfer Unterschlupf bieten." Der Angriff auf Beverly Hills zeigt, dass es im wahrsten Sinne des Wortes keinen einzigen Ort in Gaza gibt, der sicher ist.

"Folgen der Blockade töten Menschen"

Dr. Youssef Abu Rysh, Leiter der Notaufnahme, arbeitet seit Beginn der Angriffe am 8. Juli im Al-Shifa-Krankenhaus und schläft jeden Tag nur drei Stunden auf einer Matratze in seinem Büro. "Sehen Sie sich die Toten und Verletzten der Angriffe hier bei uns an. Es werden fast nur unbeteiligte Kinder und Frauen getötet. Das sind alles Kriegsverbrechen, die von unabhängigen internationalen Experten untersucht werden müssen", fordert Abu Rysh.

Obwohl sämtliche Mediziner und Krankenpfleger des Hospitals im Dauer-Notdienst sind, können die Ärzte nicht schnell genug allen Schwerverletzten helfen. "Es sterben Patienten im Krankenhaus, weil wir nicht genug Personal und medizinisches Gerät haben, um allen rechtzeitig zu helfen", klagt Abu Rysh. "Nicht nur die aktuellen Angriffe, auch die Folgen der achtjährigen Blockade töten die Menschen."

Neben einer toten Frau

In den Fluren des Hospitals liegen Schwerverletzte und Tote nebeneinander. Ein Mädchen im Kindergartenalter mit schweren Verletzungen an den Beinen, ein Junge, kaum acht Jahre alt, mit starken Verbrennungen, dessen Körper nach verbrannter Haut riecht, warten hier auf einen freien Platz im Operationssaal. Weil auch das Leichenschauhaus des Spitals überfüllt ist, müssen sie neben einer toten Frau liegen.

Die beiden Kinder sind zwei von 200 Verletzten aus der UNO-Schule in Beit Hanun im Norden des Gazastreifens. "Ist dieses Mädchen eine Hamas-Kämpferin, ist dieser Junge ein Kämpfer des Islamischen Jihad? Haben sich diese Kinder in einem Tunnel der Widerstandskämpfer versteckt? Nein, sie wurden in einer Schule bombardiert", klagt Abu Rysh.

Die Grundschule in Beit Hanun gehört zum UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA). Chris Gunness, Sprecher der UNRWA, vergleicht die Angriffe auf Gaza inzwischen mit den Auswirkungen eines Tsunami. Er erzählt, die UNRWA habe in den Stunden vor dem Angriff auf die Schule die genauen GPS-Daten der Einrichtung an die israelischen Streitkräfte gemeldet, aber vergeblich versucht, mit der Armee eine Evakuierung zu koordinieren. "Wie können wir nachts noch ruhig schlafen, wenn in Gaza albtraumhafte Massaker wie das von Beit Hanun geschehen?", fragt Gunness. Das ist für den Vertreter einer UNO-Mission, die normalerweise höchstens indirekt Vorwürfe gegen die israelischen Streitkräfte erhebt, deutlich.

Die Ärzte von Al-Shifa

Samantha Maurin, Sprecherin von Ärzte ohne Grenzen in Paris, die derzeit im Al-Shifa-Krankenhaus vier Mediziner ihrer Organisation betreut, bezeugt: "Wir haben hier bisher nur verwundete Frauen und Kinder gesehen." Ihre Stimme klingt vorwurfsvoll.

Auf einem Flur zwischen der Notaufnahme und dem Operationssaal beschreibt sie die Arbeitsbedingungen der Ärzte von Gaza: "Ich muss den palästinensischen Ärzten vor Ort meinen Respekt zollen. Sie arbeiten in 40-Stunden-Schichten, sie sind gestresst, müde und haben kein Privatleben mehr. Trotzdem beschweren sie sich nicht und arbeiten auf einem unglaublich hohen, professionellen Niveau. Aber sie können nicht allen helfen." (Martin Lejeune aus Gaza, DER STANDARD, 29.7.2014)