"Wenn Leute Bio-Essen einkaufen und darauf achten, dass Eier nicht aus Käfighaltung kommen, aber dann Menschen so einsperren, ist das nicht okay": Josef S. nach sechs Monaten in Untersuchungshaft.

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derStandard.at: Sie wurden vergangenen Dienstag nach sechs Monaten Untersuchungshaft zu zwölfeinhalb Monaten Haft, davon vier Monate unbedingt, verurteilt. Hat Sie das Urteil überrascht?

Josef S.: Ich habe damit gerechnet, dass es ein Schuldspruch wird. Aber ich muss ehrlich sagen, ich hätte nicht gedacht, dass ich gleich rauskomme. Ich dachte schon, dass es noch zwei bis sechs Monate mehr werden könnten. Vor dem Urteilsspruch macht man sich natürlich Gedanken über das Urteil, aber man schiebt es auch weg: Man kann sich ja nicht 23 Stunden am Tag den Kopf darüber zermartern – die Entscheidung liegt nicht in meinen Händen. Es war schon entspannend, als ich das einmal akzeptiert hatte.

derStandard.at: War Ihnen bewusst, dass Sie möglicherweise in Konflikt mit dem Gesetz geraten, als Sie nach den Vorfällen auf dem Stephansplatz weiter mitgingen?

Josef S.: Ich habe nicht damit gerechnet. Ich glaube, wenn man Straftaten begehen will, verhält man sich anders. Die meisten von denen hatten die gleiche Jacke an und waren vermummt. Wenn man konspirativ vorgehen will, macht man es anders, als mit einem fetten Aufdruck herumzulaufen. Aber ich war auch überrascht, als sie mich verhaftet haben. Die Auslegung des Landfriedensbruchs-Paragrafen war mir vorher nicht bewusst.

derStandard.at: Wie stehen Sie zu dieser Auslegung?

Josef S.: Kritisch. Ab wann ist es so, dass man sich von der Demo zurückziehen sollte? Wenn man hinten steht und vorn passiert irgendwas, muss man dann sofort wegrennen? Man begeht ja selbst keine Straftat. Man ist nur in der Masse drin und wird mit angezeigt. Es ist dann halt schon sehr einfach für die Polizei – einfach ein paar rauszugreifen, wo man weiß, die waren halt irgendwie da. Ohne ihnen konkret etwas vorwerfen zu müssen. Da macht es sich dann die Justiz recht einfach. Außerdem: Der Landfriedensbruch wird ja auch nicht immer durchgesetzt. Soweit ich weiß, wurden die 30 rechten Hooligans, die den türkischen Verein im Ernst-Kirchweger-Haus bewaffnet angegriffen haben, nicht wegen Landfriedensbruch angeklagt.

derStandard.at: Warum haben Sie eigentlich während des Prozesses geschwiegen?

Josef S.: Als Beschuldigter ist man in einer schwierigen Lage. Man ist massiven Anschuldigungen ausgesetzt. Ich hatte nicht das Gefühl, dass große Erklärungen daran etwas ändern werden. Das sah man ja auch, als ich erklärte, dass ich Linkshänder bin. Der Richter sagte: Schön und gut, aber was hat das mit dem Verfahren zu tun? Die Erklärung wurde eher abgeschmettert. Ich habe mit meinen Anwälten versucht, Zeugen zu finden, die belegen, dass der Tag anders abgelaufen ist als beschrieben.

derStandard.at: Eine Polizistin sagte vor Gericht aus, sie habe sich gewundert, dass da auch Deutsche nach Wien kommen, um hier zu demonstrieren. Verstehen Sie das?

Josef S.: Burschenschaften sind über die Grenzen hinweg vernetzt, und zum FPÖ-Ball kamen ja auch Nord- und Ostdeutsche angereist – diese Thematik ist ja keine rein österreichische. Außerdem sind Grenzen für mich nicht so wichtig. Diese Hetze, die Burschenschaften und die FPÖ verbreiten, betrifft ja Migranten auf der ganzen europäischen Ebene. Ich kenne Österreich nicht gut, habe aber mitbekommen, dass es hier nicht so viele große Demonstrationen gibt – da ist es natürlich nochmal außergewöhnlicher, wenn Leute aus dem Ausland anreisen. Aber in Jena macht es kilometertechnisch keinen Unterschied, ob ich nach Hamburg fahre oder nach Wien.

derStandard.at: Der Richter sagte in seiner Urteilsbegründung: Was am 24. Jänner bei der Demo passiert ist, nützt nur den Burschenschaften und der FPÖ. Was entgegnen Sie ihm?

Josef S.: Umgekehrt: Wenn die FPÖ 27 Prozent hat, dann ist antifaschistischer Protest notwendig. Der Richter hat ja auch dieses Zitat, dass die Burschenschafter "die neuen Juden" seien, verwendet – das fand ich schon sehr unangebracht. Natürlich sind Straftaten auf der Demonstration passiert. Aber man kann auch diskutieren, welches Leid die nationalistische Denkweise der Burschenschaften über Menschen bringt: Wie viele Menschen im Mittelmeer sterben bei der Überfahrt, weil das der einzige Weg ist, nach Europa zu kommen? Es wird medial sehr stark auf diese Krawalle fokussiert. Krawalle bringen medial mehr Auflage, aber dieses leise, schleichende Entgleiten der Gesellschaft durch solche populistischen Aussagen wird nicht beachtet. Solche Aussagen ermutigen aber auch manche Menschen, Gewalttaten gegen Ausländer zu begehen.

derStandard.at: Wie war es, im Mittelpunkt des Medieninteresses zu stehen?

Josef S.: Es ist schon ein komisches Gefühl, wenn man abends den Fernseher anmacht und sich da selber sieht, wenn man die Meinung seiner Eltern zu den Geschehnissen aus dem Fernsehen hören muss. Andererseits ist es gut, dass es Medieninteresse gibt, weil mein Fall zeigt, wie die österreichische Justiz arbeitet. Man sollte sich nicht nur meinen Prozess angucken, sondern alles, was in diesen Gebäuden stattfindet. Und andere Häftlinge haben gesagt: "Du hast doch Kontakt zur Presse. Sag denen, dass die Haftbedingungen nicht gut sind."

derStandard.at: Was kritisieren Sie an den Haftbedingungen?

Josef S.: Allein, dass man sieben Tage die Woche 23 Stunden in der Zelle sitzen muss. Es gibt kaum Freizeitmöglichkeiten, kaum Sachen, die man machen kann – man kann Bücher lesen, ein bisschen Fernsehen gucken, ein bisschen Karten spielen mit Kollegen und reden – aber da hört es auch schon auf. Die Leute verzweifeln wirklich daran, dass sie nicht wissen, was sie tun sollen. Ich habe Leute kennengelernt, die mir jeden Tag beim Spazierengehen auf die Frage "Na, wie geht’s dir?" gesagt haben: "Scheiße. Jeden Tag das Gleiche." Da muss man was ändern, das ist keine menschenwürdige Behandlung. Wenn Leute Bio-Essen einkaufen und darauf achten, dass Eier nicht aus Käfighaltung kommen, aber dann Menschen so einsperren, ist das nicht okay.

derStandard.at: Was sollte sich konkret verbessern?

Josef S.: Es wäre wichtig, dass diese Leute mal etwas tun können – dann müssen sie vielleicht weniger medizinische und psychologische Hilfe in Anspruch nehmen. Man muss auch sagen, dass die Justizwache Probleme hat – die sind chronisch unterbesetzt. Auf unserer Etage gab es zum Beispiel einen Kraftraum. Den konnte man aber nur besuchen, wenn drei Beamte auf dem Stock waren – was eigentlich nie der Fall ist. Das tut vielen Beamten auch leid. Die würden den Leuten auch lieber mehr Freizeit ermöglichen, aber das können sie nicht.

derStandard.at: Wie haben Sie Ihren Mithäftlingen erklärt, warum Sie im Gefängnis sind?

Josef S.: Viele kannten die Bilder schon aus den Medien. Diese Menschen haben ihre eigenen Erfahrungen mit der Polizei gemacht. Dadurch verstehen sie schon, wenn man sagt, die Beweislage ist nicht sehr dick und man sitzt trotzdem in Haft. U-Haft ist natürlich schwer, weil man ja nie weiß, wie lang es dauert. Das zehrt an den Nerven. Vor dem Prozess dachte ich mir: Egal was passiert, ob ich verurteilt werde, wie hoch die Haftstrafe ist – es ist immer besser zu wissen, wie lang es dauert, als einfach rumzusitzen und auf den nächsten Prozesstermin zu warten.

derStandard.at: Welche Bekanntschaften haben Sie im Gefängnis gemacht?

Josef S.: Viele hatten Migrationshintergrund, das waren klassische Leute, die keine Ausbildung haben, die Probleme haben, die gesellschaftlich nicht akzeptiert sind. Es gab viele mit Drogenproblemen, auch viele, die keine Arbeitserlaubnis haben, weil sie Asylsuchende sind – und die dann mit irgendwelchen kleinen Jobs versuchten, Geld zu akquirieren. Sehr viele nette, freundliche Menschen, die einem auch helfen, wenn man was braucht. Als ich ihnen von mir erzählt habe, dass ein Polizist gegen mich aussagt, haben sie gemeint: Dann brauchst du mindestens sieben eigene Zeugen.

derStandard.at: Wie war der Umgang mit den Justizwachebeamten?

Josef S.: Es gibt gute und schlechte. Es gab schon mehrere, die wussten, was mein Fall ist, und die dann Anspielungen machten – "Der Deutsche kommt hierher und macht die Innenstadt kaputt" und so. Oder die Frage: "Na, hat sich’s gelohnt?" Darauf wollten sie natürlich hören: "Nein, ich bereue alles" – unabhängig davon, ob ich schuldig bin oder nicht. Man sitzt ja sowieso in Haft, die Haft ist schon Strafe genug.

derStandard.at: Mehrere Prozessbeobachter bezeichneten Aspekte Ihres Verfahrens als absurd, manche sprachen gar von einem Skandal. Was war für Sie der absurdeste Moment in diesem Verfahren?

Josef S.: Am Anfang ist alles eher unwirklich. Man sitzt in diesem Polizeitransporter und denkt sich: Okay, wo bin ich jetzt hier? Dann kommt man aus der Justizanstalt Josefstadt raus und steht wieder mitten in Wien. Und war sechs Monate lang 200 Meter von der Wohnung von Freunden entfernt und hat sie trotzdem kaum gesehen. Ich gebe ehrlich zu, dass ich das Ganze noch nicht begreifen kann, deswegen ist irgendwie alles absurd. Der Moment, als der Hauptbelastungszeuge dasaß und der Richter fragte: "Welche Gegenstände wurden geworfen?“ – Und er zählt dann auf – und dann setzt er "Steine“ noch hinterher. Da hab ich mich schon gefragt: Warum kann er es nicht wie aus der Pistole geschossen sagen, wo er doch schon zwei, drei Aussagen aufgesetzt hat? Das war so ein Moment, wo ich dachte: Hm, okay.

derStandard.at: Sie haben gesagt: "Mein Fall zeigt, wie die österreichische Justiz arbeitet." Glauben Sie denn, er wäre in Deutschland so nicht möglich gewesen?

Josef S.: Ich kenne die deutsche Justiz auch nicht so gut, aber es gibt ja einen Fall in Deutschland, wo jemand verurteilt wurde, weil er in Dresden bei der Demo gegen den März-Aufmarsch das Megafon ergriffen hat und gesagt hat "Kommt nach vorn". Dafür hat er 22 Monate Haft bekommen, ohne Bewährung. Das zeigt schon, dass in Deutschland solche Fälle auch möglich wären. Ich möchte aber auch gar nicht solche Vergleiche aufmachen – was ist besser, Österreich oder Deutschland.

derStandard.at: In Wien wurden die Ausschreitungen des 24.1. als außergewöhnlich bezeichnet. Hatten Sie in Deutschland zuvor schon ähnliche Demonstrationen erlebt?

Josef S.: Ich würde generell sagen, dass es in Österreich und Deutschland unterschiedliche Demonstrationskulturen gibt, medial hat man solche Dinge in Deutschland schon öfters mitbekommen. In Österreich ist der Akademikerball eben ein ziemlich polarisierendes Thema. Als ich in Wien angekommen bin, war in der "Heute" eh vorher schon zu lesen, dass die "Berufsdemonstranten Krawalle machen werden". Ich glaube, da bauscht man auch etwas auf. Da gibt es medial schon Erwartungen – und dann freut man sich wohl auch darüber, dass man berichten kann. Europaweit gesehen war diese Demo, glaube ich, nichts Außergewöhnliches – wenn ich es mit England oder Schweden vergleiche.

derStandard.at: Inwiefern haben die Erfahrungen in Wien Sie geprägt?

Josef S.: Wenn mich der nächste Polizist anspricht, werde ich schon ziemlich nervös sein. Weil ich nicht weiß, was dann passiert. Das ist etwas, was mein Bild, dass hier Gerechtigkeit herrscht, nicht gerade verbessert. Ich habe jetzt eher das Gefühl, dass viele Leute in Haft sitzen, weil man eine Statistik erfüllen will, weil die Polizei Fahndungserfolge braucht. Natürlich hatten viele der Leute in Haft Drogen dabei – aber sie sitzen dann nicht nur wegen Drogenbesitz, sondern auch gleich wegen Weitergabe oder Dealen. Ich habe schon das Gefühl, dass oft der objektive Blick nicht so gewahrt wird, dass da andere Kriterien entscheiden, ob ein Verfahren geführt wird oder nicht.

derStandard.at: Welche Kriterien meinen Sie?

Josef S.: Leute, die unangenehm sind – wie beim Schleppereiprozess oder beim Tierschützerprozess. Oder auch antifaschistischer Protest, weil es da ja unterschiedlichste Gruppen gibt und viele Parolen, die auch staatskritisch sind. Da entsteht das Gefühl bei der Polizei und Staatsanwaltschaft, dass das halt Unangepasste sind, auf die man aufpassen muss. Da entsteht, glaube ich, so eine Erwartungshaltung, dass das dann eher zu einer Verfolgung führt als bei anderen Gruppen.

derStandard.at: Glauben Sie, dass es einen Einfluss hatte, dass Sie Deutscher sind?

Josef S.: Allein rechtlich schon – hätte ich hier einen ordentlichen Wohnsitz und einen Arbeitsplatz, hätte ich vielleicht eine Fußfessel bekommen. Und natürlich zeichnet es ein anderes Bild, wenn jemand aus Deutschland anreist – man hat das Gefühl, dass man vorbereitet zur Demo kommt, es wirkt geplanter. Im Gerichtsakt wird ja erwähnt, man hatte Informationen, dass Deutsche anreisen wollen, um Krawalle zu machen. Der Aufklärungstrupp (zu dem auch der Belastungszeuge gehörte, Anm.) hatte diese Information wohl auch, und er hat vielleicht speziell auf deutsche Personen geachtet.

derStandard.at: Der Richter wunderte sich, dass Sie eine österreichische SIM-Karte besorgt hatten.

Josef S.: Also wenn er gerne Roaminggebühren im Ausland bezahlen will ... man besorgt sich eine österreichische SIM-Karte, weil man damit billiger telefoniert. Aber natürlich – man kann alles auslegen, wie man möchte.

derStandard.at: Der Staatsanwalt hat in Zusammenhang mit den Anti-Akademikerball-Protesten von Terrorismus gesprochen. Verstehen Sie das?

Josef S.: Ich fand es ziemlich makaber. Jena ist nun einmal die Heimatstadt des NSU. Ralf Wohlleben, der mitangeklagt ist, hat lange Zeit im selben Viertel gewohnt wie ich. Der Tag der Urteilsverkündung war noch dazu der dritte Jahrestag von Uttoya, wo Anders Breivik 77 Menschen umgebracht hat. Bei der Demo gegen den Akademikerball ist niemand gestorben. Das sollte man schon unterscheiden – gerade als Staatsanwalt.

derStandard.at: Wie wird dieser Prozess Ihr künftiges Engagement beeinflussen?

Josef S.: Ich werde mir jetzt schon zweimal überlegen, auf welche Demo ich fahre. Wenn ich nach der Berufung eine Bewährungsstrafe habe, dann wird sie natürlich bei einer Demo immer über einem schweben. Da wird man sich schon fragen: Fahre ich da jetzt wirklich hin? Auf der anderen Seite würde ich sagen: Das ist Repression. Da reagiert man dann schon widerständig und sagt: Vielleicht mache ich dann noch mehr Politik. (Maria Sterkl, derStandard.at, 25.7.2014)