Nikolaus Schneider, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche Deutschlands, ist vor kurzem von seinem Amt zurückgetreten, weil seine Frau an Krebs erkrankt ist. Anne Schneider, selbst eine renommierte Theologin, ist entschlossen, in der Schweiz Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, wenn ihre Schmerzen unerträglich werden sollten. Ihr Mann ist, wie alle Kirchenleute, grundsätzlich gegen aktive Sterbehilfe. Aber in einem Interview in der Zeit bekannte er neulich, er würde gegen seine Überzeugung seine Frau auf dieser letzten Reise begleiten.

Liebe geht vor Prinzipien. Wankt nun das strikte kirchliche Nein zu allen Formen der Beihilfe zum Freitod? Die grundsätzliche Entscheidung, ob und inwieweit das Leisten oder Verweigern von Sterbehilfe als Ausdruck christlicher Nächstenliebe verstanden werden kann, sagt Schneider, ist nicht ein für alle Mal zu treffen. Ähnliches äußerte dieser Tage der ehemalige anglikanische Erzbischof von Canterbury, Lord Carey. Und auch von prominenter katholischer Seite ist eine positive Äußerung zum Thema überliefert. Der Schweizer Theologe Hans Küng, ein Kritiker Papst Benedikts, aber ein Bewunderer von Papst Franziskus, hat erklärt, er werde ebenfalls Sterbehilfe suchen, wenn er als Schwerkranker "nicht mehr er selbst" oder "nur ein Schatten seiner selbst" wäre. Küng leidet an Parkinson.

Natürlich sind es nicht die Kirchen, die darüber zu entscheiden haben, ob in einem Land Sterbehilfe verboten ist oder nicht. Aber ihr Wort wiegt schwer, besonders in Österreich, wo die ÖVP dieses Verbot unbedingt in der Verfassung verankern will. Damit steht sie ziemlich allein da. 83 Prozent der Österreicher sind laut Umfragen dafür, dass jeder Mensch selbst darüber entscheiden darf, wann und wie er sterben darf - selbst der ÖVP-Justizminister ist gegen eine Verfassungsbestimmung.

In der alternden Gesellschaft Europas wird die Sterbehilfe mehr und mehr zum Thema. Die Zahl der Demenzkranken steigt dramatisch, ebenso die Zahl derjenigen, die nur noch mit künstlicher Beatmung, mit Schläuchen und Maschinen, am Leben erhalten werden. Das kann man, wenn man es nicht will, mittels einer Patientenverfügung vermeiden. Diese Möglichkeit ist freilich zu wenig bekannt und zu teuer. Aber den europäischen Regierungen wird es nicht erspart bleiben, sich mit dem Sterbehilfeverbot zu befassen, zumindest mit der Entkriminalisierung der Beihilfe. Auch hier ist eine überwältigende Mehrheit der Europäer dafür.

Als der Schauspieler Herbert Fux zum Sterben in die Schweiz fuhr, begleitete ihn seine Frau nicht. Sie durfte nicht. Ein Kärntner, der vor einigen Jahren trotzdem seine Frau begleitete, wurde angezeigt. Die Richter sprachen ihn allerdings wegen mildernder Umstände frei. Die Autorin Emmanuèle Bernheim schilderte in einem Bestseller, wie sie ihren schwerkranken Vater auf dessen Wunsch mit einem Krankenwagen in die Schweiz schickte. Sie wurde ebenfalls angezeigt und von der Polizei vorgeladen. Und dann sagte die zuständige Beamtin: "Tun Sie, was Ihr Herz Ihnen befiehlt." Nicht die schlechteste Richtschnur für den Umgang mit diesem Thema. (Barbara Coudenhove-Kalergi, DER STANDARD, 24.7.2014)