Das Misstrauen gegen Mächtige, das der verstoßenen Priester Adolf Holl (rechts) hegt, erwidert Minister Andrä Rupprechter mit einem kühnen Versprechen: "Wenn ich das Gefühl habe, lügen zu müssen, ist es Zeit, auszusteigen."

Foto: andreas urban

Anders als aufmüpfige Priesterkollegen in Lateinamerika strebte Holl nie in die Politik: "Wenn ein Intelligenzler die Sachen, die er sich ausgedacht hat, in die Tat umsetzt, kommt Furchtbares dabei heraus."

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Rupprechter hat wiederum Vorbehalte gegen die Unannehmlichkeiten des Priesterberufes: "Der Zölibat ist in der Form, wie er jetzt besteht, nicht mehr zeitgemäß."

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STANDARD: Aus Tirol dringt die Kunde, dass Sie auf Fußballplätzen Rosenkranz beten. Hat das schon einmal einer Mannschaft genützt?

Rupprechter: Das kann ich dezidiert verneinen - weil ich am Fußballplatz noch nie gebetet habe. Wahr ist daran nur, dass ich immer einen Rosenkranz dabei habe. Das ist eine Gebetsform, die ich nach langer Vergessenheit reaktiviert habe und die mir Halt gibt.

Holl: Früher habe ich auch Rosenkranz gebetet, doch jetzt ist meine Religionsangehörigkeit minimalisiert. Das heißt, ich versetze mich am Abend vor dem Schlafengehen in die Gegenwart Gottes. Das werden Sie jetzt nicht verstehen, Herr John - aber ich kann es Ihnen auch nicht erklären, denn zum Verstehen braucht man 60 Jahre.

Rupprechter: Ich behaupte: Ich habe es unter 60 Jahren geschafft.

STANDARD: So stark hat schon lange kein Spitzenpolitiker mehr seinen Glauben in den Vordergrund gestellt. Gefällt Ihnen das als Theologe und Ex-Priester?

Holl: Gefallen ist für einen Religionswissenschafter keine Kategorie, mich interessiert der analytische Beigeschmack. Da ist mir aufgefallen, dass der Herr Minister das Bekenntnis zum Herzen Jesu bei seiner Angelobung besonnen und klug begründet hat: nicht etwa, indem er gesagt hat, weil er fromm, katholisch oder ÖVPler sei, sondern weil er Tiroler ist. Dahinter sehe ich jene Verknüpfung von Tradition und Modernität, wie sie in Tirol ein bisserl schlampig , aber durchaus kompetent gelingt: Lederhose und Laptop.

Rupprechter: Ich empfinde die Botschaft des heiligen Herzens Jesu auch als sehr modern, es ist die Botschaft des Verzeihens und Vergebens. Letztlich kommt mit dem von der Lanze durchbohrten Herzen - wenn ich im Gespräch mit einem Theologen den Exkurs wagen darf - das Leben des Mensch gewordenen Gottes zu Ende. Damit wird Auferstehung erst möglich: Gott hat sich selbst geschenkt, um der Menschheit ihre Sünden zu vergeben und das ewige Leben zu geben. So habe es ich zumindest als einfacher Christ verstanden.

5 Fragen nach Max Frisch an Rupprechter und Holl.
usslar

STANDARD: Herr Holl hat Religion einmal als Infektionskrankheit beschrieben - ob gut- oder bösartig, müsse der Einzelne entscheiden. Wie hat es Sie erwischt?

Rupprechter: Ich hatte eine starke Lehrmeisterin: meine sehr belesene und bibelfeste Mutter.

Holl: Mich hat fasziniert, dass ein Priester am Altar ein paar Formeln flüstert, und schon ist Gott mit am Tisch: In Wahrheit wollte ich zaubern können. Doch da mir meine Ziehgroßmutter immer ein "Lüg nicht, Bubi!" eingeschärft hat, war es für mich unerträglich, als ich mit den Jahren gemerkt habe, dass ich von der offiziellen Lehre angelogen werde. Jesus wollte ganz bestimmt keine Kirche gründen.

STANDARD: Was Sie in Ihrem Bestseller "Jesus in schlechter Gesellschaft" niedergeschrieben haben. Können Sie mit dem Bild von Jesus als Sozialrevolutionär etwas anfangen, Herr Minister?

Rupprechter: Sicher wollte Jesus die Verhältnisse aufbrechen. Die Frohbotschaft der Evangelien ist, wenn man sie aus der damaligen Zeit heraus versteht, in vieler Hinsicht revolutionär. Für mich ist die christliche Soziallehre des Arbeiterpapstes Leo ein moralisch-ethisches Raster, an dem ich mein Tun und Handeln orientiere.

STANDARD: Die Kirche aber hat mit Neuerungen so ihre Probleme. Sie, Herr Holl, haben das zu spüren bekommen, als Sie in den Siebzigern das Priesteramt verloren haben ...

Holl: ... weil ich als Geistlicher damals vor laufender Kamera im Fernsehen zugab, Geschlechtsverkehr praktiziert zu haben. Der Staberl hat daraufhin in der Kronen Zeitung geschrieben, der Kardinal König soll die freche Wanze rauswerfen - und ich bin dann ja auch suspendiert worden. Man muss aber sehen, dass es - um mit Dante zu sprechen - im katholischen Garten nicht nur Rosen, sondern auch Brennnessel gibt: 80 Prozent der Geistlichen haben eine Freundin - sofern sie sich das noch leisten können, denn angesichts der Überalterung des Klerus sind die meisten 70 oder 80 Jahre alt.

STANDARD: Sind Sie dafür, den Zölibat, die Pflicht zur Ehelosigkeit für Priester, aufzuheben?

Rupprechter: Ja. Der Zölibat ist in der Form, wie er jetzt besteht, nicht mehr zeitgemäß. Die Ostkirche zeigt ja, dass verheiratete Priester sehr gut in der Lage sind, auf die Menschen einzugehen. Ich halte auch für sehr wichtig, dass Frauen in der Kirche eine stärkere Rolle spielen. Papst Franziskus hat viele Signale gesendet, dass sich da in den nächsten ein, zwei Jahren etwas weiterentwickelt.

Holl: Der Zölibat für das katholische Priestertum ist ein historisches Zufallsprodukt, das keinen Sinn ergibt. Ich kann mir aber keinen Papst mit Kinderwagen vorstellen - und den Dalai Lama auch nicht. Denn für Ordensmänner wie diese erfüllt die Ehelosigkeit ja einen Zweck: Sie ist eine Verzweiflungsreaktion auf das Daseinschaos der Männer, deren Traditionen weit zurückreichen. Tausend Jahre vor Christi Geburt zogen sich in Indien verzweifelte Männer in den Wald zurück, um sich mit der Asche von der Verbrennung der Toten einzureiben und ins Leere zu starren. Der Papst wäre falsch beraten, diese kulturgeschichtliche Tatsache zu annihilieren. Die Ehelosigkeit der Ordensmänner ist Weltkulturerbe: Ohne die Mönche wäre Europa heute ein anderer Kontinent.

Rupprechter: Ich glaube auch nicht, dass die Kirche alle ihre Probleme löst, wenn sie den Zölibat aufhebt. Die Evangelischen praktizieren keine Ehelosigkeit, haben aber die gleichen Nachwuchssorgen.

Holl: Europa ist da ein spezieller Fall. Im Rest der Welt nimmt die Religiosität zu. Solange die Menschen schwach gebildet sind, die Frauen viele Kinderlein kriegen müssen, weil sie wenig über Verhütung wissen, geht's der Religion super. Bei uns hingegen sinkt der Anteil der Katholiken, und auch die Parteien begegnen der Kirche mit wachsender Gleichgültigkeit.

Rupprechter: Auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit sehe ich die Kirche trotzdem nicht. Ich lebe in Gersthof zum Beispiel in einer sehr aktiven Pfarrgemeinde. Die Zahl der Katholiken mag schrumpfen, doch wir leben nicht von den Lauwarmen, sondern von jenen, die im Herzen brennen.

STANDARD: Eine Parallele: Auch den traditionellen Parteien laufen die Schäfchen davon, das Ansehen der Politik sinkt. Aus gutem Grund?

Holl: Ja, das kann ich sehr gut verstehen. Die Personen, die heute in der Politik herumwerkeln, sind verwechselbar. Namen kommen und gehen - doch mir geht keiner ab, der weg ist. Mir fehlen Persönlichkeiten, bei denen sich alle umdrehen, wenn sie den Raum betreten. So eine Intensität habe ich erlebt, als ich dem damaligen ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat bei einem Filmdreh in Ägypten einen schönen Gruß vom Bundeskanzler Bruno Kreisky ausrichten durfte: Der Mann hatte Macht im Sinne von Power. Der freundliche Nachbar von nebenan hat bei mir verloren. Wobei Sie, Herr Minister, natürlich etwas für Ihre Unverwechselbarkeit getan haben. Bei einer Straßenumfrage wird den Leuten vielleicht nicht der Name Rupprechter einfallen, aber ein paar werden sagen: "Der mit dem Herzen Jesu."

STANDARD: Die Regierung weist gerne darauf hin, dass Österreich im Vergleich gut dasteht. Ist die Farblosigkeit der Politiker nicht egal, solange sie ihren Job solide erledigen?

Holl: Nein, das ist höchst problematisch, weil die fehlende Attraktivität der Politik zur Entpolitisierung und - als alter Herr darf ich das sagen - zur Verblödung der jugendlichen Kohorten beiträgt. Gefesselt werden die Jugendlichen dann von Phänomenen wie Facebook, wo schon der Name lügt: Weder handelt es sich um ein Buch noch um etwas Körperliches, wie es ein Gesicht ja ist.

Rupprechter: Ein Fake-Book, ja. Verblödung will ich das nicht nennen, aber einen Rückzug der Bevölkerung von der Politik nehme ich schon wahr. Da breitet sich ein Neo-Biedermeier aus - und wir wissen, dass hinter dem Biedermeier ein Metternich gestanden ist. Er wird wieder lauter, der Ruf nach dem starken Mann, der die lästige Politik regeln soll, während wir unser schönes Leben, unser Internet, ein bisschen Sport und Spiele genießen. Diese Politikverdrossenheit ist auch eine Luxuserscheinung. Jene Demokratie, die vor 60, 70 Jahren noch befestigt werden musste, ist selbstverständlich geworden. Da können wir uns scheinbar leisten, Politik nicht mehr ernst nehmen zu müssen. Ich appelliere aber: Wer mit dem Angebot unzufrieden ist, soll selbst aktiv werden. Ich habe mir ja auch einen Ruck geben müssen, zumal ich es als gut bestallter Beamter in Brüssel sicher gemütlicher hatte.

STANDARD: Als Lektion im Umgang mit Obrigkeiten haben Sie, Herr Holl, einmal genannt: "Sie lügen und müssen lügen." Wieso?

Holl: Diese Feststellung stammt nicht von mir, sondern aus dem "Großinquisitor" von Dostojewski. Sie deckt sich aber mit meinen Erfahrungen, und ein Intelligenzler in seinem Stübchen ist dazu da, solche Wahrheiten auszusprechen. Eine gewisse Unzugehörigkeit ist mir ja in die Wiege gelegt. Weil ich ein uneheliches Kind war, musste meine Mutter eine Annonce aufgeben, um einen offiziellen Vater zu finden. Sonst hätte sie den Posten als Sekretärin bei der Landarbeiterversicherung verloren - der Direktor war übrigens ein gewisser Engelbert Dollfuß.

Rupprechter: Ich halte ein anderes Zitat entgegen: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Unsere Aufgabe ist, die Wahrheit so zu sagen, dass sie bei der Bevölkerung ankommt. Wenn ich einmal das Gefühl habe, lügen zu müssen, ist der Zeitpunkt da, auszusteigen.

STANDARD: Das muss Ihnen aber erst jemand glauben. Vor der letzten Wahl hat die ÖVP etwa massive Steuersenkungen verheißen, danach ist sie plötzlich draufgekommen, dass kein Geld dafür da ist.

Rupprechter: Da war ich noch nicht dabei. Die frohe Botschaft ist: Von nun an wird alles besser.

STANDARD: Warum wollten Sie nicht, so wie andere aufmüpfige Priester in Lateinamerika, in die Politik gehen, Herr Holl?

Holl: Ein Schriftsteller soll ja nicht politisch handeln! Wenn ein Intelligenzler die Sachen, die er sich ausgedacht hat, in die Tat umsetzt, kommt etwas Furchtbares dabei heraus - denken Sie zum Beispiel an Trotzki.

Rupprechter: Ja, das ist der Fluch der Radikalität.

Holl: Außerdem habe ich vor dem Amt durchaus Respekt: Macht ein Minister einen Fehler, sind unter Umständen Millionen weg. Tue ich das heute in meiner Gelehrtenklause, passiert gar nichts. (Gerald John, DER STANDARD, 23.7.2014)