Die achtjährige Zahra (re.) hat einen Granatsplitter im Auge, das sich entzündet hat. Die Caritas fand sie und ihre Familie in einem Gewächshaus bei Beirut. Tags darauf wurde sie behandelt.

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Stefan Maier arbeitet seit 20 Jahren im Mittleren Osten. "Auf das Positive konzentrieren", ist seine Motivation.

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STANDARD: Eine humanitäre Krise im Ausmaß von Syrien haben Sie nach eigener Aussage in 20 Jahren Tätigkeit noch nicht erlebt. Welche Szenarien halten Sie für möglich?

Maier: Es gibt vier Möglichkeiten, wie ein Konflikt zu Ende geht: Das eine ist der militärische Sieg einer Seite, was in Syrien derzeit ausgeschlossen ist. Es herrscht eine militärische Pattsituation. Die zweite Möglichkeit wäre das militärische Eingreifen einer ausländischen Macht, auch das ist unrealistisch. Verhandlung als dritte Möglichkeit scheidet nach dem Fehlschlag von Genf aus. Es bleibt leider nur das vierte und tragische Szenario: Dieser Konflikt wird so lange weitergeführt, bis beide Seiten ausgeblutet sind.

STANDARD: Sie rechnen nicht damit, dass ein Teil der Syrer in absehbarer Zeit zurückkehren kann?

Maier: Täglich kommen 2500 neue Flüchtlinge in den Libanon. Das Land ist kleiner als Tirol und schon jetzt völlig überfordert. Es halten sich geschätzte 1,5 bis zwei Millionen Syrer im Libanon auf. Das entspricht der Hälfte der eigenen Bevölkerung.

STANDARD: Was bedeutet das für den Libanon?

Maier: Je länger dieser Konflikt dauert und je mehr die Libanesen unter den Folgen leiden, desto schwieriger wird das Verhältnis zu den Flüchtlingen. Die demografische Situation des Landes ändert sich: 60 Prozent der hier geborenen Kinder haben syrische Eltern. Acht von zehn Personen, die festgenommen werden, sind Syrer. Immer mehr Libanesen verlieren ihre Arbeit, weil ein Heer völlig verarmter Flüchtlinge da ist, die für jeden Betrag arbeiten, um zu überleben.

STANDARD: Können Hilfsprojekte diesen Effekt abschwächen?

Maier: Nur sehr eingeschränkt. Wir haben zum Beispiel Schuljausen im Nordlibanon verteilt, das kommt auch armen syrischen Familien zugute. Darauf achten wir.

STANDARD: Dass acht von zehn Kriminellen angeblich Syrer sind - halten Sie das für Propaganda?

Maier: Die Zahlen können durchaus stimmen. Es sind hunderttausende Menschen hier, die verzweifelt sind und kaum genug zum Leben haben. Die internationale Hilfe ist völlig unzureichend. Diese Menschen müssen irgendwie überleben. Alle Arten von Verbrechen wie Diebstahl, Prostitution, Frauenhandel, Menschenhandel nehmen zu. In der Bekaa-Ebene arbeiten sie als Erntehelfer, sonst können sie den Grund für die Zelte nicht zahlen. Da müssen die Kinder mithelfen, sonst geht es sich finanziell nicht aus.

STANDARD: Ist Kinderarbeit in dieser Situation also unvermeidbar?

Maier: Offensichtlich ist es derzeit nicht anders möglich. Der Libanon ist nicht in der Lage, alle syrischen Kinder zur Schule zu schicken. Diesen Kindern werden alle Zukunftschancen genommen. Es ist eine verlorene Generation.

STANDARD: Lässt sich ein Vergleich zu den Palästinensern ziehen?

Maier: Im gewissen Sinne ja. Diese vollständige Hoffnungs- und Antriebslosigkeit könnte auch das Problem der Syrer werden. Dieser Fatalismus ist tödlich. Viele Ausbildungsprojekte haben nicht gefruchtet, weil keine Motivation mehr da war. Diesen Punkt sollte man nicht noch einmal erreichen.

STANDARD: Befürchten Sie, dass weitere hunderttausende Flüchtlinge aus dem Irak dazukommen?

Maier: Die meisten bewegen sich innerhalb vom Irak. Ich glaube nicht, dass die Kämpfer von Islamischer Staat (IS) in das schiitische Kernland vordringen können. Im Osten Syriens ist die Gefahr auf jeden Fall größer.

STANDARD: Wie steht es um die Versorgung der rund sechs Millionen Binnenflüchtlinge in Syrien?

Maier: Denkbar schlecht. Alle Regionen in Rebellenhand werden von der Regierung hermetisch abgeschlossen, Hunger wird als Kriegswaffe eingesetzt. Es gibt Berichte von Oxfam, dass es in vielen Spitälern kein Narkosemittel mehr gibt. Patienten müssen k. o. geschlagen werden, damit man sie operieren kann.

STANDARD: Sie sind seit mehr als 20 Jahren in der Region tätig. Ständig entstehen neue Krisenherde, die langjährige Projekte gefährden. Was hält Sie davon ab, das Handtuch zu werfen?

Maier: Die Lage im Libanon ist zwar brisant, aber relativ stabil. Selbst in Syrien laufen unsere Langzeitprojekte trotz der Bürgerkriegswirren weiter. Wir haben in Damaskus einen Kinderhort für sudanesische Flüchtlingswaisen, die in Syrien festsitzen. Ausflüge sind zwar nicht mehr möglich, aber die Kinder werden weiterhin liebevoll betreut und versorgt.

STANDARD: Was motiviert Sie persönlich weiterzumachen?

Maier: Zu sehen, was über die Jahre Positives entstanden ist und wie die Hilfe aus Österreich unzähligen Menschen geholfen hat. Man muss sich auf das Positive konzentrieren. (Julia Herrnböck aus Beirut, DER STANDARD, 22. 7. 2014)

Ansichtssache zu Flüchtlingen im Libanon

Disclaimer: Die Reise in den Libanon wurde von der Bawag PSK, einer Sponsorin der Caritas, kofinanziert.