Bildernebel und Emotion: Juan Gabriel Vásquez.

Foto: Nina Subin

Wien - Ein Nilpferd ist entkommen. Zwei Jahre lang richtet es Schaden an, bis man es erschießt. Es ist Sommer 2009, es ist in Kolumbien. Den Jura-Professor Antonio, der davon in der Zeitung liest, versetzt der Vorfall in frühere, bleierne Jahre. Das Tier stammt aus dem Zoo des legendären, auf der Flucht erschossenen Drogenbosses Pablo Escobar.

Wir sind in einem Roman von Juan Gabriel Vásquez. Ihm gelingt es mit jedem Buch von neuem, aus persönlichen Schicksalen die dramatische, blutige Geschichte Kolumbiens (mit Blick auf die Nachbarn) erstehen zu lassen. 2011 konnten wir Die geheime Geschichte Costaguanas auf Deutsch lesen, seinen verschachtelten Roman über Panama als korrigierte Version eines Eldorado.

Ein Jahr zuvor erschien Die Informanten in Übersetzung, hohe Sprachkunst, die Abgründe von Schuld und Erinnerung vermittelt. Auch mit dem neuen Werk wird es nachvollziehbar, warum Mario Vargas Llosa den kaum Vierzigjährigen aus Bogotá als eine der originellsten Stimmen Lateinamerikas bezeichnet hat.

Die Informanten beginnt Anfang der 1990er-Jahre, schildert das "im Chaos versunkene Bogotá", um bis zu einem Verrat während des Weltkriegs zurückzugehen. Wie hier sind nun die Oberthemen des Romans Das Geräusch der Dinge beim Fallen die Omnipräsenz des Todes, die Angst in der Stadt, das schwierige Verhältnis zu den Eltern und die Geheimnisse hinter den Fassaden der Menschen. Die große Kunst von Juan Gabriel Vásquez ist es, wie er nicht nur Spannung schafft, sondern zudem das Äußere und einen "ungeklärten Grund" auf innere Geschehen zu übertragen versteht.

Explosion der Welt

Der Tod des Nilpferdes bringt dem Ich-Erzähler Antonio wieder einen Mann in den Sinn, an den er lange nicht mehr gedacht hat, obwohl sein Überleben eng mit dieser Person zusammenhängt. So geht der Roman eineinhalb Jahrzehnte in die Zeit zurück, schließlich bis zu einer Katastrophe ("Die Welt explodierte", heißt es in aller Knappheit und Deutlichkeit).

Antonio ist 1996 beim tödlichen Anschlag auf seinen geheimnisvollen Billardpartner schwerverletzt davongekommen, jedoch völlig aus dem gewohnten Leben gerissen worden. Nun wird ihm die Erinnerung an diesen Ricardo Laverde "zu einem unermüdlichen, treuen Gespenst".

Er geht der Geschichte nach und begibt sich in die Abgründe der Zeit und der Menschen. Dabei muss er sich den eigenen Problemen von früher stellen, seinem zerstörerischen Verhalten gegenüber Frau und Tochter. Es sind die Jahre, in denen Escobars Medellin-Kartell seine Gewalt über das Land zieht; es ist in den Sechzigerjahren, zum Beginn der Liebe von Ricardo Laverde und der Amerikanerin Elena Fritts, die Epoche, in der man in Kolumbien mit intensivem Drogenhandel anfängt.

Welche Schuld hatte Laverde auf sich geladen; was hat er Stunden vor seiner Ermordung auf der Tonkassette gehört, das ihn zum Weinen brachte; warum hat man ihn getötet? Und immer stärker die Frage: Wie hängt die fremde Geschichte mit der eigenen zusammen?

Lebensabstürze

Die Zeit- und Handlungsebenen verschränkt Vásquez souverän, die Motivketten (Flugzeuge, Tonband, Zoo, ...) halten seine klare und dennoch so hintergründige Prosa. Ihr eigener Ton kommt in der Übersetzung von Susanne Lange fein zur Geltung - sie müsste nur bedenken, dass "laufen" nicht "gehen" bedeutet. Charaktere und Ambiente erstehen plastisch, ohne dass alles durchschaubar würde. Bogotá und die tiefer gelegenen, heißen Landstriche, das Tal des Magdalena, die zerfallende Hazienda von Pablo Escobar vermag Vásquez ebenso dicht zu beschreiben wie Ermordung und Angst. Mit Elena Fritts, die aus Florida für das "Peace Corps" nach Bogotá gekommen war, als der Vietnamkrieg tobte und Malcolm X umgebracht wurde, bezieht das Thema der Gewalt die USA ein: "in ihrem Land wachte man auf und wusste nicht, was einen erwartete, welch grausamen Scherz einem die Geschichte heute spielen, wie sie einem diesmal ins Gesicht spucken würde." Wie es so weit gekommen sei, fragt sich die Idealistin und denkt: "Wir sind alle auf der Flucht."

Das Geräusch der Dinge beim Fallen erzählt von Lebensabstürzen, konzentriert in einem zentralen Flugzeugabsturz, und vom Gedenken. Die Erinnerung erscheint als "Bildernebel, den die Emotion verzerrt, eine bunte Mischung entscheidender Momente ohne jede Ordnung". So mag man die Geschichte von Ricardo und Elena und ihrer Tochter, wie sie Antonio - angeregt vom Tod des Nilpferds - im Nachnachhinein zusammenfügt, als packende Erzählung, zugleich als faszinierenden Bildernebel verstehen.

Die verbliebenen Objekte der Verstorbenen, über die Tochter und kurzzeitiger Freund so wenig wissen, dass sie auf Vermutungen und Ausschmückungen angewiesen sind, bedeuten "Fenster in eine andere Welt". (Klaus Zeyringer, DER STANDARD, 22.7.2014)