Wien - Es gibt Monsterbücher des Umfangs; und es gibt Monsterbücher des Inhalts. An beiden ist die literarische Moderne reich. Eine punktuelle Auswahl beginnt mit James Joyce' Finnegans Wake, Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz und Doderers Dämonen und endet noch lange nicht mit Sasha Sokolovs Palisandriia, Alasdair Grays Lanark, Alex Sadkowskys Chinesischer Wespe oder mit dem nicht abgeschlossenen Zyklus Das alte Jahrhundert von Peter Kurzeck.

Dazu kommen Monsterautoren wie Louis-Ferdinand Céline, Carlo Emilio Gadda, Arno Schmidt, Roberto Bolaño, Marianne Fritz, David Foster Wallace, José Lezama Lima, Thomas Pynchon. Und nun, erstmals vollständig auf Deutsch zu lesen in einer extravaganten Edition, Blaise Cendrars' Moravagine.

Weltliteraturhimmel

Der Schweizer Autor Cendrars (1887-1961) wurde erst im vergangenen Jahr in den französischen Weltliteraturhimmel aufgenommen, in die Bibliothèque de la Pléiade. Was ihn, den Flieger, den Verehrer des Eiffelturms, Freund vieler Künstler, den Bohemien in Paris, den Weltreisenden und Abenteurer zwischen Sibirien und New York, Brasilien und St. Petersburg, stolz gemacht hätte.

Nun hat der Zürcher Stefan Zweifel, der für die buchgestalterisch traumwandlerischer denn je agierende Andere Bibliothek schon Romain Roussels Locus Solus edierte, Cendrars' "Monsterroman" Moravagine (1926) neu herausgegeben, er hat die autorisierte Übersetzung von 1928 überarbeitet und eine Fülle an zusätzlichem Material beigefügt inklusive Fotografien des im Ersten Weltkrieg versehrten Autors.

Denn Frédéric Louis Sauser, so der bürgerliche Name des früh in Pariser Avantgardekreisen berühmten Dichters, hatte sich 1914 als Freiwilliger gemeldet. Ende 1915 wurde er schwer verletzt, sein rechter Unterarm amputiert. Moravagine, der Protagonist mit dem sprechenden Namen - der Tod aus der Vagina, Tod allen Vaginas -, war jene Lebensfigur, die Cendrars 50 Jahre lang begleitete, von der Studienzeit in Bern, wo er einem erschreckend normalen Vergewaltiger begegnete, die Ur-Anregung, bis in die 50er, als Cendrars nach einem Schlaganfall als Erstes fragte: Wer ist Moravagine?

Wer ist dieser "Moloch", dessen Lebensweg wir via kühlen Erzähler folgen? Ein Kindsmörder angeblich adeliger Herkunft, der zehn Jahre lang in einem psychiatrischen Sanatorium verbringt, nach Berlin flieht, studiert, mordet, nach Russland flieht, Anarchist wird, ein sadomasochistisches Liebesverhältnis zu einer Jüdin unterhält (erstmals sind diese degoutant antisemitischen Passagen auf Deutsch zu lesen), den Atlantik überquert, von New York zum Orinoko reist, wo ihn Indianer für den Erlöser halten.

Dann kehren er und der Erzähler nach Paris zurück, der Krieg bricht aus, der Erzähler verliert sein linkes Bein und findet am Ende den sterbenden Moravagine als Wahnsinnigen wieder, dieser hinterlässt gesammelte Werke, die vom Jahr 2013 berichten, von marsianischem Leben und ewig währendem Krieg. Wer ist Moravagine? Ein unheiliges Scheusal, Phantom, Phantasma, psychische Projektion, die bedrängend paranoide Nachtseite des Autors.

Seit Alexander Nitzbergs Edition der Werke von Daniil Charms scheint sich eingebürgert zu haben, Kommentarsektionen nicht mehr mit prägnanten Informationen, sondern mit Exkursen und Randbemerkungen zu füllen. Zweifel liefert ein besonders abschreckendes Beispiel hierfür. Denn statt der Leserschaft sachliche Handreichungen zu offerieren, findet man überbordend Subjektives. Hinzu kommt, dass es - auch dies sieht man bei Zweifel überdeutlich - ratsam ist, manchmal einen Blick auf die Nachbar-Künste zu werfen. So wäre dem Editor aufgefallen, dass der Lustmord in ebender Zeit, in der Cendrars so sehr um die Form von Moravagine rang, in der bildenden Kunst Karriere machte, bei George Grosz, bei Rudolf Schlichter. Und zu der Reihe von pathologischen Amoralisten mit M ließe sich auch ein Dr. Mabuse zählen.

Unverständliches Nachwort

In seinem Nachwort zu Ich tötete - ich blutete, Cendrars' zwei bewegende, erstmals übersetzte autobiografische Kriegstexte, ergänzt um eine derbe Soldatenfantasie, treibt dann Stefan Zweifel seine Emphase auf den Höhepunkt. Der ist für den Leser allerdings ein Tiefpunkt, denn das Nachwort ist weitgehend unverständlich. Besonders ärgerlich: Es handelt sich stilistisch um eine ungelenke Imitation von Cendrars' eindringlich gehämmerter Sprache.

Dieser Essay steht quer zu den zwei eindringlichen Texten des durch große Schrift und leere Seiten auf 200 Seiten ausgedehnten Bandes. Ratsam ist es, bei der Lektüre die Cendrars-Biografie von Miriam Cendrars bei der Hand zu haben, der Tochter, die ihren Vater kaum kannte und ihn sich durch das Schreiben erschloss. So wie sich Blaise Cendrars das Ich-Monster Moravagine erschloss. (Alexander Kluy, DER STANDARD, 21.7.2014)