Rustschuk, an der unteren Donau, wo ich zur Welt kam", schreibt Elias Canetti in seinem großen Erinnerungsbuch Die gerettete Zunge, "war eine wunderbare Stadt für ein Kind, und wenn ich sage, dass sie in Bulgarien liegt, gebe ich eine unzulängliche Vorstellung von ihr, denn es lebten dort Menschen der verschiedensten Herkunft, an einem Tag konnte man sieben oder acht Sprachen hören. Außer den Bulgaren, die oft vom Land kamen, gab es noch viele Türken, die ein eigenes Viertel bewohnten, und an dieses angrenzend lag das Viertel der Spaniolen, das unsere. Es gab Griechen, Albanesen, Armenier, Zigeuner. Vom gegenüberliegenden Ufer der Donau kamen Rumänen, meine Amme, an die ich mich aber nicht erinnere, war eine Rumänin."
Vielsprachig und multikulturell
Damals, im Einflussbereich und entlang der Ränder des Habsburgerreiches, war Europa naheliegenderweise und selbstverständlich vielsprachig und multikulturell. Bevor ab 1914, wie der englische Historiker und lebenslang gläubige Marxist Eric Hobsbawm es etwas pathetisch ausdrückte, das großartige Bauwerk der Zivilisation des 19. Jahrhunderts in den Flammen des Weltkriegs zusammenbrach. Auch und erst recht für Europas Juden.
In der multikulturellen Donaumonarchie gab es jüdische Hausierer und Bankiers, jüdische Mediziner und Künstler, Dichter und Kaufleute, Arbeiter und Politiker, Salonièren und Schmatteshändler, Journalisten - viele Journalisten -, Rabbiner und Eisenbahnpioniere. Alles Europäer avant la lettre, wie der Titel des nun von Felicitas Heimann-Jelinek und Michaela Feurstein-Prasser, bekannt durch ihre langjährige erfolgreiche Tätigkeit am Jüdischen Museum Wien, herausgegebenen, üppig illustrierten und gut gedruckten Bandes kokett behauptet?
Die in Harvard ausgebildete und in Paris lebende Historikerin Diana Pinto macht in ihrem Beitrag, der gleich auf den programmatischen Einleitungsessay folgt, eine feinsinnige Unterscheidung. Denn waren Juden tatsächlich die ersten Europäer? Oder waren sie nicht doch richtiger die Vorboten und Pioniere der Globalisierung?
Schließlich waren ihre familiären, beruflichen, wirtschaftlichen, religiösen, ihre erzieherischen und kommunikativen Netzwerke weit- und ausgreifend und, nein: nicht international. Sondern: transnational. Transnationale Verbindungspunkte in einem schier unüberschaubaren europäischen Herrschaftsfleckenteppich. Diese Netzwerke waren geschäftsaufbauend und -stabilisierend, andererseits wirkten sie als Identitätsanker. Kennzeichen dieser mit der umgebenden christlichen Gesellschaft interagierenden Bezugslinien war ihre große und kluge Flexibilität. Ohne etwa die jüdischen Bankiers, anfangs "Hoffaktoren" geheißen, hätte seit dem frühen 18. Jahrhundert kaum eine Dynastie in Europa ihren Bankrott abwenden oder die Akquise von Kronen und Thronen stemmen können.
Klug diskutiert der Basler Historiker und Judaist Erik Petry die europäische Judenheit zwischen Ressentiments ("vaterlandslose Gesellen") und Emanzipationsbestrebungen, zwischen Universalität und Nationalismen. Sein Fazit: Im Bezugsrahmen der "Nation", ohnehin ja eine Erfindung erst des 19. Jh.s, ist der jüdische Bevölkerungsteil Avantgarde gewesen. Denn die Entscheidung, sich einer Nation durch Wohnen und Empathie zugehörig zu fühlen, und zwar häufig tief und von Herzen, ist eine hochmoderne. Was auch heißt: Juden konnten politisch höchst konservativ sein. Und 1914 begeistert in den Krieg ziehen - für ihr jeweiliges Heimatland.
Petry stellt auch eine wesentliche Frage: Gilt dieser Befund auch für Osteuropa, für das Leben in den Schtetls und im Rayon des Zarenreiches? Es gab eine Abgrenzung seitens der assimilierten westeuropäischen Juden, von denen sich so mancher sämtlichen religiösen Riten entschlagen hatte, dem Sozialismus anhing oder, umgekehrte Reaktion auf den Antagonismus des Antisemitismus, Zionist wurde. Ganz wesentlich ist die immer wieder eingestreute Korrektur der Außenwahrnehmung, dass das Judentum eben alles andere als einheitlich war. So überschaubar primitiv erschien es nur seinen Gegnern, die bis 1914 immer zahlreicher geworden waren. Was etwa in den 1890er-Jahren die Affäre um den Colonel Dreyfus in Frankreich zeigte, das seit den 1880er-Jahren ein mehr als nur latent antijudaisches Land geworden war.
Das Imperium der Habsburger, das vom Bodensee bis zum Schwarzen Meer reichte und von Lemberg bis Triest, ging nicht 1918 unter. Das Vielvölkerreich endete später. Dann aber gleich zweimal. Einmal im Mai 1939, als in Paris Joseph Roth sich im Alter von 45 Jahren erfolgreich zu Tode trank und elend in einem Armenspital krepierte. Und drei Jahre später, als Stefan Zweig in Brasilien freiwillig aus dem Leben schied. Der erste war der große, dabei klarsichtige Nostalgiker Habsburgs, der andere, sein Freund, der vielleicht letzte intellektuelle und humanistische Repräsentant einer gesamteuropäisch ausgerichteten kulturellen Grundhaltung, die der Salzburger inmitten des um ihn tobenden Zweiten Weltkrieges für sich für alle Zeiten und ohne jede Aussicht auf Besserung oder partielle Aufhellung zerschellen sah.
"Weggewaschen ohne Spur"
Nicht gerade viele dürften Leben und Bedeutung von Cäcilie Freiin von Eskeles (1760-1836), von der dieses Buch ein prachtvolles Porträt aus dem Bestand des Germanischen Nationalmuseums zeigt, parat haben. Sie war die Schwester Fanny von Arnsteins, über die Hilde Spiel eine noch immer eminent lohnende Lebensbeschreibung verfasste. Die Berliner Bankierstochter heiratete 1799 den Wiener Bankier Bernhard von Eskeles (1753-1839), wichtiger Finanzberater von Joseph II. und Franz II. und Mitbegründer der Österreichischen Nationalbank, und betrieb einen wichtigen Salon.
Heute ist in ihrem Palais in der Dorotheergasse in der Inneren Stadt Wiens Jüdisches Museum untergebracht. Nie hätte Cäcilie von Eskeles geahnt, noch erwartet, dass 105 Jahre nach ihrem Tod der kultivierte Stefan Zweig zutiefst resigniert schreiben würde, die Monarchie der Habsburger sei "weggewaschen" worden "ohne Spur". Ein geeintes Europa also eine Illusion, ein friedliches, ein tolerantes, ein von Rassismen freies, nichtextremistisches und nicht nationalistisch sich abkapselndes ein naiver Trug? (Alexander Kluy/DER STANDARD, 19.7.2014)