Die Kreativität der Werbebranche ist grenzenlos. Genauso wie die Fantasie unseres Autors Stefan Ender. Er denkt sich an dieser Stelle wöchentlich eine Geschichte zu einer aktuellen Werbekampagne aus. Das Magazin mit dem aktuellen Werbesujet fotografierte Lukas Friesenbichler, das Werbemotiv stammt von Hedi Slimane.

Foto: Lukas Friesenbichler

Wie man in Paris wusste, machte Karl Lagerfeld jedes Jahr genau einen halben Tag Urlaub. Am 10. Juli erledigte er in der Früh noch die Korrespondenz, ließ dann von seiner Dienerschaft die notwendigen Dinge zusammenpacken und fuhr am Nachmittag zu einem kleinen Picknick ins Petit Trianon. Die Verwaltung von Schloss Versailles sperrte Marie Antoinettes Refugium dankenswerterweise an diesem Tag für die Öffentlichkeit.

Hier feierte er immer seinen Geburtstag um zwei Monate vor – wenn es die Queen mit den Feierlichkeiten zu ihrem Geburtstag terminlich nicht so genau nahm, dann durfte er das auch. Die Chanel-Schau war zu diesem Zeitpunkt immer gerade gelaufen, und danach brauchte er einfach diesen halben Tag, um nach dem Treiben im Bienenstock seine Batterien wieder aufzuladen.

In diesem Jahr mussten die Leckereien und die Bücher alle in Taschen von Saint Laurent gepackt werden – weil Hedi Slimane nun da arbeitete. Slimanes Slim-Look aus seiner Dior-Ära, für den sich der kuhäugige Kleider- und Fotokünstler von anämischen, anorektischen Berliner Indiemusikszenejungens hatte inspirieren lassen, hatte Lagerfeld ja vor einigen Jahren zu einer radikalen Transformation seines Körpers und seines persönlichen Kleidungsstils animiert.

Foto: Lukas Friesenbichler

Ach, Slimane… Versonnen nahm sich der Designer eine halbe Gabel von den gedünsteten, ungesalzenen Karotten. Die Gedanken des 80-Jährigen schweiften zurück zu der Heerschar von Kollegen, die er alle überlebt hatte: Yves Saint Laurent tot, Gianni Versace erschossen, Thierry Mugler und Claude Montana berieten noch so ein bisschen, Helmut Lang und Jil Sander hatten verkauft, Alexander McQueen und John Galliano hatten sich auf ihre Art aus dem Rennen genommen. Nur Armani hielt noch durch.

Er selbst hatte ja mit den Wertheimers einen Vertrag auf Lebenszeit, und den würde er selbstverständlich auch erfüllen. Das gehörte sich so. Pflichtbewusstsein und eine konsequente Strenge zu sich selbst – Karl bezeichnete es gern als "Autofaschismus“ – waren ihm von seiner Mutter beigebracht worden. Lagerfeld nippte an seinem Champagner und biss von einer Madelaine ab. Es war das einzige Mal im Jahr, dass er sich Alkohol und Süßigkeiten erlaubte. Choupette, Lagerfelds Katze, strich dankbar schnurrend um seine Beine. Die Kalbsleberstückchen hatten ihr anscheinend gemundet.

Ein winziger Schluck Weißwein noch. Dann erhob sich Lagerfeld, und auf sein Signal hin näherte sich sein Leibdiener, um ihm einen sanften, aber bestimmten Wangenstreich zu verpassen. "Schluss mit den Vergnügungen, du dekadentes Persönchen!“, herrschte ihn dieser wie vereinbart mit einer strengen Falsettstimme an. Ein kurzer Schauer der Erregung schoss durch Karls Körper. D‘accord, maman! Nun hatte er wieder Kraft für ein weiteres Jahr. (Stefan Ender, derStandard.at, 20.7.2014)