"Nach reiflicher Überlegung habe ich der Versuchung widerstanden, etwas dazuzuerfinden": Ludwig Laher in seinem neuen Roman "Bitter", der das plastische Bild eines Mitläufers liefert.

Foto: Heribert Corn

Das Ungeheure lässt sich nur erzählen, wenn Erzähler und Leser mit ihrem jeweiligen Wissensschatz an das Thema herangehen. Ähnlich einer Rahmennovelle braucht es ein sogenanntes Rahmenwissen, damit das Erzählte in aller Mehrdeutigkeit erschlossen werden kann. Damit die Geschichte nicht als rasch konsumiertes Leseabenteuer versickert, braucht es Querstiege, Anknüpfungspunkte und Erfahrungshaltegriffe, womit die dargelegte Fiktion als brauchbare Vorstellungsrealität ausgestattet werden kann.

Ludwig Lahers Romane (Herzfleischentartung, Einleben) setzen die Figuren oft einem bürokratischen System aus, an dem die Leserschaft durch Mitwisserschaft beteiligt ist, im Roman Verfahren geht es um das Verwalten exponierter Schicksale, indem man etwa Asylanten selbst in ihren Erzählungen noch im Kreis schickt.

In seinem jüngsten Roman Bitter kümmert sich Ludwig Laher um eine hohe österreichische SS-Figur, an deren Beispiel sich der öffentliche Umgang mit der Historie herausarbeiten lässt. Gleich zu Beginn stellt Laher das Konzept vor. Die Figur Bitter ist ein literarisches Statement, das mit den Mitteln der Fiktion, der Verkürzung und extremen Ausleuchtung arbeitet.

Diesem "Kunst"-Helden steht eine historische Figur Modell, die im Roman aus rechtlichen Gründen nie als solche angeführt wird, denn auch über ein halbes Jahrhundert nach der Nazizeit genießen manche seltsamen Schutz und klagen gerichtlich alles, was dem ihrer Weltsicht widerspricht. Der Autor empfiehlt das Recherchieren im Netz, während man sich dieser Figur Bitter zuwendet. Und im Netz taucht dann Friedrich Kranebitter auf, SS-Sturmbannführer, unter anderem Kommandeur im ukrainischen Charkow und 1944 zuständig für das "Bozner Massaker", bei dem 23 Inhaftierte ermordet worden sind. Nach dem Krieg wird der 1934 promovierte Jurist, dem kurzzeitig der Titel aberkannt wurde, schnell wieder ein wohlgeachteter Inspektor der oberösterreichischen Brandschadenversicherung. Zu seinem Tod 1957 ruft man ihm den Satz nach: "Sein Leben war nur aufopfernde Liebe und treueste Pflichterfüllung."

Im Roman tritt eine Figur zutage, die die jeweilige Wirklichkeit geschickt für das eigene Fortkommen ausnützt. Dabei gibt es Zeiten, wo viel geschönt und poliert werden muss, dann wiederum läuft alles wie von selbst. Ludwig Laher setzt für diesen unregelmäßigen Zeitstrom einen Ich-Erzähler ein, der jeweils knapp kommentiert, für die ersten Jahrzehnte des Untergrundlebens als Nazi hat es zwei Kapitel gebraucht, beim sogenannten Umsturz braucht es oft ein ganzes Kapitel für einen einzigen Tag.

Historische Folie

An kleinen Sequenzen wird festgemacht, wie so ein Massenmörder tickt. Als in Österreich nach der Übernahme der Macht durch die Nazis sein Schwager gefoltert wird, zeigt Fritz Bitter keine Regung. "Fritz meint trocken, das habe der Schwager sich selbst zuzuschreiben." Bitter findet auch nichts dabei, mit dem beschlagnahmten Auto eines Rechtsanwalts herumzufahren, nach dem Krieg wird er ausgerechnet von diesem verteidigt.

Und als ihm der akademische Titel aberkannt wird, verwendet er diesen zufleiß, um ein Gnadengesuch an den Bundespräsidenten zu schicken. Dazwischen liegen "Säuberungen", Massaker und SS-Wüten, das zwar ausführlich dokumentiert ist, nach dem Krieg aber kaum Konsequenzen hat. Denn die Öffentlichkeit zur damaligen Zeit hat kein Interesse zuzugeben, dass Österreich besonders heftige Nazis gestellt hat. Das öffentliche Desinteresse, der Zeitgeist und die stets wechselnden Argumentationsketten bewahren Bitter vor einer gerechten Strafe. "Der Kitt, der das alles zusammenhält, ist das gezielte Schweigen."

Aus der Folie einer historischen Figur und der Darstellung als Romanfigur ergibt sich ein plastisches Bild von Mitläufern, tagespolitischen Handlangern und Menschen, die zu Massakern fähig sind, wenn es die Umstände zulassen. Bitter trägt alle diese Schattierungen in sich, oft werden die Dialoge, Beschreibungen und Skizzierungen abgebrochen, damit sich der Leser selbst seine persönliche Eindeutigkeit verschaffen muss. Der Erzählvor- gang selbst wird dabei stets subtil thematisiert.

"In Wahrheit ist die Person Bitter nur als Folie von Belang, hieß es zu Beginn des Buches, als schmerzliche Illustration für einen bemerkenswerten, keineswegs aber einzigartigen Sachverhalt."

Ludwig Lahers Erzählweise dient immer auch der Verknüpfung diverser Lern- und Erfahrungsfelder, im Idealfall kristallisiert das Gelesene zu einem Zuwachs an Bildung aus, wie er manchmal didaktisch zwanglos in einer guten Unterrichtsstunde gelingt. Eine Fasson der Hauptfigur wird im Abriss vorgestellt, fertig installiert mit dem Handwerk der Fiktion und schließlich ausgestattet mit dokumentarischem Erzählgeist.

"Nach reiflicher Überlegung habe ich der Versuchung widerstanden, etwas dazuzuerfinden. Nur ganz selten habe ich Schauplätze verlegt, Ereignisse zusammengezogen, Personen eine leicht abweichende Gestalt verliehen."

Die wahre Arbeit muss der Leser leisten, indem er diese Figur in seinem Lesekosmos und in seinem Leben adäquat installiert. - Eine anspruchsvolle Form des Erzählens und Lesens. (Helmut Schönauer, Album, DER STANDARD, 19./20.7.2014)