Unter uns liegen 3.700 Tonnen Bodenfliesen aus Granit. Tausende Geschäftslokale, Wohnungen und Terrassen hätten damit gefliest werden können, hätte die Fahrt der Chrisoula K. am 30. August 1981 nicht ein jähes Ende genommen. In voller Fahrt voraus rammte der griechische Frachter, der 27 Jahre davor als Dora Oldendorff in Lübeck vom Stapel gelaufen war, das nordöstliche Ende von Sha’ab Abu Nuhas, eines Riffs im ägyptischen Teil des Roten Meeres, und sank innerhalb weniger Stunden.

Die politische Krise in Ägypten scheint eine jetzt schon sichtbare positive Auswirkung zu haben: Die Fischbestände im Roten Meer konnten sich erholen. 
Foto: Verena Diethelm


So liegen die eigentlich für den saudiarabischen Hafen Jeddah auf der anderen Seite des Roten Meeres bestimmten Fliesen am Grunde der See und harren noch immer darauf, verlegt zu werden. Statt eines attraktiven Bodenbelags im Shoppingcenter - „Made in Italy“ - geben sie nun ein beliebtes Fotomotiv für Taucher ab. Wie übrigens auch der Blaupunktrochen, der es sich gerade in 25 Metern Tiefe im Strömungsschatten der wuchtigen Schiffsschraube bequem gemacht hat; oder die Muräne, die sich jetzt über den Grund schlängelt, auf dem Weg von einem sicheren Unterschlupf zum nächsten; oder der Schwarm von Fledermausfischen, der in das Deckshaus eingezogen ist; und natürlich der Rotfeuerfisch, dessen Stammplatz bei der Ankerkette am Bug in nur 2,7 Metern Tiefe liegt und somit selbst von Schnorchlern zu bewundern ist.

Unter Wasser scheint die Welt in Ordnung

Unter Wasser scheint die Welt in Ägypten noch in Ordnung zu sein. Keine Spur von Staatskrise, Umsturz und partiellen Reisewarnungen. Während der Pauschaltourismus im Land von der instabilen politischen Lage schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde, haben sich die Taucher als treue Gäste erwiesen.

"Durch den Rückgang des Massentourismus und damit der Tagesausflugsboote hat sich der Fischbestand erholen können", sagt Gerald Sereda, der vor der Krise als Tauchlehrer in Ägypten gearbeitet hat. Auch das ein Grund, warum es derzeit noch immer genug Taucher ans Rote Meer zieht.

Wracks für Einsteiger

Kaum ein Revier bietet so viel Abwechslung wie die Straße von Gubal und das nördliche Rote Meer. Steilwände, Korallengärten, Großfische und natürlich Wracks sind dort fast überall zu sehen. "Nirgendwo im Roten Meer gibt es eine solche Dichte an Wracks, die noch dazu in leicht zugänglichen Tiefen auch für Einsteiger ins Wracktauchen geeignet sind", sagt Arnold Gerstl, Geschäftsführer der Wiener Tauchschule Umex, die hier dreimal jährlich Tauchsafaris organisiert.

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Nirgendwo im Roten Meer gibt es eine solche Dichte an Wracks, die noch dazu in leicht zugänglichen Tiefen auch für Einsteiger ins Wracktauchen geeignet sind.
Foto: dpa/Udo Kefrig


Kapitän Mohammed steuert mit seiner luxuriösen, 40 Meter langen Motoryacht Voyager eine Woche lang sämtliche Highlights der Nordroute an. Drei bis vier Tauchgänge pro Tag erwarten die 25 Gäste an Bord. Luft oder Nitrox liefern vier Kompressoren, zwei schnelle Tenderboote bringen die Passagiere direkt zu den Tauchplätzen.

Fixpunkt jeder Tour im Norden ist Sha’ab Abu Nuhas, der größte Schiffsfriedhof im Roten Meer. Darüber, wie viele Schiffe genau an diesem Riff ihre letzte Ruhestätte gefunden haben, streiten die Experten bis heute. Sind es vier oder sieben? Gesichert ist zumindest die Existenz des deutschen Linsenfrachters Kimon K., des Fliesenfrachters Crisoula K., des Dampfseglers Carnatic und des Holzfrachters Ghiannis D., die wie aufgereiht am Riff liegen.

Orientierung in der Schräge

Eine schräge Erfahrung im Wortsinn ist ein Tauchgang an der Ghiannis D., die auf 21 Metern um 45 Grad gekippt am Meeresgrund liegt. Taucht man in die Aufbauten hinein, kann man aufgrund der Schräglage leicht die Orientierung verlieren, weshalb das Tauchen in diesem Wrack nichts für Anfänger ist.

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Die SS Thistlegorm wurde 1941 von deutschen Jagdfliegern versenkt.


Die SS Thistlegorm darf auf keiner Wracktour fehlen. Sie ist der unangefochtene Star dieser Unterwasserarmada. Das britische Versorgungsschiff wurde 1941 von zwei deutschen Heinkel-Bombern angegriffen. Die brachten das mit Munition vollgestopfte 126-Meter-Schiff zum Explodieren. Mittschiffs wurde die Thistlegorm völlig zerfetzt und sank innert weniger Minuten auf 31 Meter Tiefe. In den 1950er-Jahren wurde sie von der Taucherlegende Jacques-Yves Cousteau entdeckt, der ihre Koordinaten aber aus gutem Grund geheim hielt.

Tagsüber herrscht hier Rushhour

Als die Thistlegorm in den 1990ern wiederentdeckt wurde, bot sie ein allzu beliebtes Ziel für Souvenirjäger, die alles mitgehen ließen, was nicht niet- und nagelfest war: Tankdeckel der Lastwägen wurden abgeschraubt, Lenker und Sitze von Motorrädern abmontiert und sogar Granaten aus den Laderäumen entfernt.

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Tagsüber herrscht an der Thistlegorm Rushhour. Ausflügler aus Hurghada und Sharm El Sheikh umkreisen mit ihren Booten die Stelle, und unter Wasser hat man das Gefühl, durch einen gigantischen Whirlpool zu tauchen. Zu Hochzeiten des Pauschaltourismus in Ägypten begrüßten das Wrack und seine Bewohner laut Schätzungen bis zu 100.000 Besucher pro Jahr .

In der Nacht kommt die Thistlegorm zur Ruhe. Dann lohnt ein Tauchgang am meisten. Langsam sinkt man im Schein der Unterwasserlampe die Muringleine des Tauchbootes hinab in die Dunkelheit. In 17 Metern Tiefe erfasst der Lichtkegel schließlich die Kommandobrücke. Es dauert nicht lange, bis der erste Rotfeuerfisch vom Licht angelockt wird.

Foto: Christian Fischer

Gegen die Strömung geht es zunächst in Richtung Bug, vorbei an einem auf dem Seitendeck stehenden Eisenbahnwaggon und Bordkränen, die wie Arme in die Dunkelheit ragen. Ein Blick nach rechts - absolute Finsternis, undurchdringbares Schwarz. Ein Blick nach links - eine bunte mit Korallen und Anemonen überwucherte Wand ragt in die Höhe. Klüse und Ankerwinsch, die Öffnung in der Bordwand und die Winde, verraten es - man ist am Bug angekommen.

Tanzendes Plankton

Ist der Luftvorrat noch ausreichend, kann ein kurzer Abstecher in einen der beiden Frachträume, in denen sich noch immer Ladung und eine Flugzeugtragfläche befinden, gewagt werden. Durch die Ladeluke lässt man sich langsam hinabsinken. Im Schein der Unterwasserlampe tanzen feinste Sedimente und Plankton auf und ab, wirken die zerbrochenen Windschutzscheiben, der herumliegende Gummistiefel und die übereinandergestapelten Motorräder noch viel bizarrer.

Wer genug von Wracks hat, besucht das Dolphin House von Sha’ab El Erg. In der Lagune haben die Meeressäuger eigentlich ihren Ruheplatz und sollten nicht gestört werden. Doch auf dem Weg in ihr "Schlafzimmer", im Kanal zwischen Hauptriff und Korallenblock, trifft man oft auf einige Exemplare, die gerade frisch ausgeruht und daher ganz offensichtlich in Spiellaune sind. Sie nähern sich den Tauchern neugierig, spielen mit deren Luftblasen, balancieren Steine auf ihren Nasen und schlagen Pirouetten. Das nächste Wrack kann warten. (Verena Diethelm, Album, DER STANDARD, 19.07.2014)