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Immer mehr Menschen flüchten vor der Gewalt im Osten der Ukraine. Viele versuchen, in Russland Zuflucht zu finden.

Foto: EPA/Bobersky

In der schwülen Mittagshitze hat der laute, aber monotone Singsang dreier schwarz gekleideter orthodoxer Priester nur wenige Menschen aus ihren Zelten gelockt. Ein Sechsjähriger beobachtet interessiert und etwas scheu die improvisierte Messe. In der einen Hand hält er ein Weckerl, mit der anderen bekreuzigt er sich eifrig jedes Mal, wenn der Priester Amen sagt. "Ich heiße Wadim", wendet er sich dann vertrauensvoll an eine Frau neben ihm.

Seit fünf Tagen schon lebt Wadim mit seiner Mutter in diesem aus rund 40 orangen, grünen und blauen Zelten bestehenden Durchgangslager des russischen Katastrophenschutzes nahe der ukrainischen Grenze. Seiner Laune konnten weder die beengten Verhältnisse im Lager, wo 16 Betten dicht an dicht in einem Zelt stehen, noch die behelfsmäßigen sanitären Anlagen, die Plumpsklos oder die Angst, Trauer und Wut seiner Mitbewohner etwas anhaben.

Flucht Richtung Russland

Die meisten seiner Verwandten sind Ukrainer, doch er habe in Russland eine Urgroßmutter, verrät er. "Zuerst fahren wir zu ihr und dann nach Norden. Gibt es im Norden eigentlich Eisbären?", will er wissen. Die Nachricht, dass er Bären wohl nur im Zoo zu Gesicht bekommt, haut ihn nicht um. "Dann fahre ich eben Schlitten", sagt er und pfeift dabei fröhlich durch eine Lücke ausgefallener Milchzähne.

Wadims Frohsinn ist erstaunlich, denn der Kleine hat durchgemacht, was keinem Kind zuzumuten ist. Er musste aus seiner Heimatstadt Donezk flüchten, Freunde und Verwandte zurücklassen, um dem Krieg und den Bomben zu entkommen. Doch zu den Geschehnissen in der Ostukraine will er nicht viel sagen. Lieber spielt er mit seiner neuen Freundin, einer Zehnjährigen, im Spielzelt mit einem großen Teddy, der als Spende dort gelandet ist.

"Terroristen mit Heugabeln"

Andere Lagerinsassen sind gesprächiger. Wenn sie reden, ist ihre Wut zu hören und ihr Hass auf Präsident Petro Poroschenko, den sie für ihr Unglück verantwortlich machen: Ihre Vertreibung sei Resultat einer gezielten Politik, vermutet die knapp 50-jährige Larissa aus Kramatorsk. Darum sei pauschal die ganze Bevölkerung des Donezbeckens zu Terroristen erklärt worden, obwohl sie sich nur verteidige. "Wir sind alle Terroristen, Terroristen mit Heugabeln und Schaufeln", sagt sie.

Woher die Rebellen Raketenwerfer, Artillerie und Flugabwehrwaffen beziehen, ist kein Thema im Flüchtlingslager. Sie danken Russland und dessen Präsidenten Wladimir Putin für ihre Aufnahme nach einer oft gefährlichen Flucht. "Ich habe den ganzen Weg über geweint", sagt Swetlana, die mit ihrem Enkel ebenfalls aus Kramatorsk über die Grenze gekommen ist.

Unterschiedliche Zahlen von Russland und UNHCR

Wie viele Ukrainer inzwischen nach Russland geflüchtet sind, ist umstritten: Laut dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR haben seit Ausbruch der Kampfhandlungen 114.000 Flüchtlinge in Russland Asyl gefunden, vor allem in der südrussischen Region Rostow am Don. Russland selbst präsentiert allerdings ganz andere Zahlen: "Derzeit sind 490.000 Ukrainer in Russland untergekommen, der Großteil davon in Südrussland", sagte Wiktor Solodownikow, Chef der Einwanderungsbehörde in Rostow. Gouverneur Wassili Golubjew sprach von einer "humanitären Katastrophe" und verhängte den Notstand in der Region.

Dem Westen wirft die russische Führung Untätigkeit und Gleichgültigkeit vor. Und so nutzt das Außenministerium natürlich die Gelegenheit, rund 70 ausländischen Journalisten vor Ort die Bilder des Leids, aber auch eine ansonsten für Russland unübliche perfekte Organisation des Flüchtlingsdramas zu präsentieren, wo der Katastrophenschutz den Vertriebenen nicht nur warme Suppe serviert, sondern für ihren Weitertransport (und das perfekte Bild) sogar dort Hubschrauber einsetzt, wo sonst ein Bus ausreichend gewesen wäre.

Rückkehr ungewiss

Doch auch wenn manches inszeniert wirkt, die Not der Flüchtlinge ist echt. Viele der Ankömmlinge haben nur das Nötigste mitnehmen können. Wie es weitergehen soll, wissen sie nicht. Nicht nur die Perspektive des kommenden Herbstes, wenn es in den Zeltlagern und den Sanatorien, die als Notunterkünfte zur Verfügung stehen, ungemütlich wird, macht ihnen Angst. Es schreckt sie die Aussicht, ihre Heimat zu verlieren. Wadim fasst es in einen Satz: "Nach Donezk können wir erst wieder zurückkehren, wenn dort nicht mehr bombardiert wird", sagt er. (André Ballin aus Rostow, DER STANDARD, 14.7.2014)