Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: APA/EPA/Suna

Also, das ist kein Spaß. Um 3.35 Uhr legt der Imam in Istanbul los oder vielmehr die Tausendschaft der Imame in der Stadt an ihren Mikrofonen und Lautsprechern. Imsak ist, der tägliche Fastenbeginn. Gläubige Muslime hören mit der nächtlichen Speisung auf, und Nichtteilnehmer am Ramadan stehen senkrecht im Bett. Aber immerhin jeden Tag eine Minute später, so will es die Astronomie. Imsak ist der Zeitpunkt, von dem an der Gläubige das Essen beendet haben soll und bewusst mit der Entscheidung zum Fasten in den Tag tritt, der erst noch anbricht. Um 5.33 Uhr ist dann Morgengebet, der Imam meldet sich wieder. (Die staatliche türkische Religionsbehörde Diyanet hat prima Apps für den Ramadan.)

Ramadan im Monat mit den längsten Tagen ist eine rechte Prüfung. Alles läuft langsamer, jeder döst, morgens taumelt das Bürovolk zur Arbeit, die Hälfte schaut nicht, wohin sie tritt oder mit dem Auto rangiert. Drei klassische Unfallsituationen auf der Straße innerhalb einer Minute sind völlig normal. Seit 28. Juni geht das so, Tendenz nur immer steigend. "Ich nehme kein Taxi am späten Nachmittag. Viel zu gefährlich mit den Fahrern", sagt eine Uni-Professorin, die Kette raucht und ihre ständige Kaffeezufuhr als "mein Benzin" bezeichnet. Das ist der nichtfastende Teil der Türkei, der mit den praktizierenden Muslimen koexistiert.

Der Flug von München nach Istanbul ist voll bis auf den letzten Platz. Aus Anstand gegenüber den kopftuchtragenden Sitznachbarinnen winkt man der Stewardess ab, die Speis und Trank anrollt. Falsch gedacht, sagt später ein türkischer Freund: Wer als fastender Muslim noch den munter Essen vertilgenden und trinkenden Nachbarn auf sich nimmt, wird besonders belohnt, so heißt es. In Sabiha Gökcen angekommen, dem Istanbuler Flughafen auf der asiatischen Seite, steht schon eine ewig lange Schlange vor der Passkontrolle. Vorne ist Minimalbetrieb. In den Glasboxen lehnen erschöpfte Beamte, es ist kurz vor Sonnenuntergang und Fastenende. "Ya abi, mach mal schneller, ich warte hier schon eine Stunde", ruft eine junge Deutsch-Türkin mit einem Baby auf dem Arm in die Box. Dafür gäbe es unter normalen Umständen mindestens eine Belehrung durch drei Polizisten, die sich vor dem Passagier aufbauen, und anschließendes Strafwarten in der Ecke. Aber auch dazu fehlt jetzt die Kraft.

Großrestaurants machen auf Straßenplakaten Werbung für die abendlichen Iftar-Menüs, fünf Gänge, zum Schluss Desserts am Buffet und Preisnachlass für Gruppen sowieso. Der Stadtteilbürgermeister wünscht an jeder Ecke alles Gute für den Ramadan, ebenso der Herr Regierungschef und jedes Unternehmen, das etwas auf sich hält. Doch Istanbul ist halb leer, so scheint es, die Hälfte muss in Bodrum sein am Meer oder bei den Verwandten auf dem Dorf in Anatolien oder verborgen in der Wohnung, Fußball-WM schauen und die endlosen Debatten über die kommende Präsidentenwahl. Plötzlich ist Platz auf den Gehwegen, kein Stau mehr, keiner will etwas verkaufen, dafür traumhafte Gelassenheit. Wenn doch nur immer Ramadan wäre. (Markus Bernath, derStandard.at, 9.7.2014)