Bartgeier Felix im Debanttal freut sich über einen reich gedeckten Tisch. Meist sind es Ziegenbeine, ab und zu gibt es Lammschädel.

Foto: Nationalpark Hohe Tauern/Knollseisen
Foto: derStandard.at/Thomas Bergmayr
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Lienz – Von unten erscheint der Hang erfreulich harmlos, keine große Sache für einigermaßen wandererprobte Beine – ein Irrtum, wie sich bald herausstellt. Rutschiges, regennasses Gras, loses Gestein und eine Steigung, die es in sich hat, erschweren den Aufstieg nahe der 1824 Meter hoch gelegenen Hofalm im kleinen Osttiroler Debanttal. Das Ziel der Plackerei ist eine flache, von Felsen gesäumte Mulde gut 150 Meter über dem Talboden. Umher liegende Knochenreste und ein leichter Verwesungsgeruch verraten: Hier speisen Aasfresser von einem ganz besonderen Kaliber.

Mit fast drei Metern Flügelspannweite zählen Bartgeier zu den größten flugfähigen Vögeln der Erde. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts waren die beeindruckenden Greifvögel in den Alpen häufig zu beobachten. Doch Schauermärchen über Geier, die Jagd auf Lämmer machen, ja sogar Hirtenbuben verschleppen, führten vor etwa 100 Jahren zu ihrer völligen Ausrottung.

Dass diese imposanten Vögel hier nun wieder heimisch sind, ist nicht zuletzt Menschen wie Michael Knollseisen zu verdanken. Der Biologe steigt etwa alle drei Tage herauf und bringt zwei hier ansässigen Jungvögeln ihr Mahl, hauptsächlich Ziegenbeine. Ab und zu gibt es den einen oder anderen Lammschädel – ein besonderer Leckerbissen für die Knochenvertilger. Denn der Speiseplan des Bartgeiers wirkt auf den ersten Blick etwas einseitig. "Die Vögel begnügen sich mit dem, was die anderen Aasfresser übrig lassen, das sind vor allem Knochen, Knorpel und Sehnen", erklärt Knollseisen und wirft ein paar frische Ziegenhaxen ins feuchte Gras. "Doch selbst in mehrere Wochen alten Gebeinen steckt noch sehr viel Nahrhaftes."

Felix und Killian heißen die beiden imposanten Vögel – und sie nennen diese schroffe Ecke des malerischen Debanttals bei Lienz im Nationalpark Hohe Tauern erst seit wenigen Wochen ihr Zuhause. Knollseisen ist seit 15 Jahren für die Wiederansiedlung des Bartgeiers im Nationalpark und für die Kontrolle der Bestände zuständig. Er war maßgeblich beteiligt, als die beiden drei Monate alten Jungvögel am 23. Mai feierlich und im Rahmen eines öffentlichkeitswirksamen Events in ihre Freilassungsnische ein Stück weiter oben am Hang ausgesetzt wurden.

Problematische Auswilderung

Ein erster Versuch in den 1970er Jahren, den Bartgeier in den Alpen wieder heimisch werden zu lassen, scheiterte kläglich. Viele der vor allem aus Afghanistan angelieferten Tiere starben bereits beim Transport, der Rest war geschwächt und schaffte es nicht, sich in der neuen Umgebung einzuleben. Erst 1986 gelang es, das Auswilderungsprojekt mithilfe eines gesamteuropäischen Zuchtprogramms auf eine solide Grundlage zu stellen.

Seither wurden im gesamten Alpenraum 202 Bartgeier an unterschiedlichen Orten in die Freiheit entlassen, die ersten im Rauriser Krumltal in Salzburg. Dass das Projekt ein Erfolg ist, belegen die zahlreichen Nachkommen. "In den letzten 28 Jahren sind in den Alpen 109 Bartgeier in Freiheit geschlüpft. Die Gesamtzahl dürfte jetzt bei etwa 200 Vögeln liegen", meint Knollseisen nicht ohne Stolz. Doch es geht nicht allein um die Etablierung stabiler lokaler Populationen. Im Vordergrund steht der Austausch zwischen den über den Alpenbogen und darüber hinaus verteilten Bartgeiergruppen. "Nur der genetische Transfer über regionale Grenzen hinweg gewährleistet eine gesunde Metapopulation von den Pyrenäen über die Cevennen und der Schweiz bis hier in die Ostalpen."

Fragile Populationen

Bis dahin ist es allerdings noch ein weiter Weg. Besonders die Verluste bedrohen das nach wie vor fragile Projekt. Über 100 Bartgeier starben oder verschwanden spurlos in den vergangenen drei Jahrzehnten. Jeder einzelne Abgang reißt eine Lücke, die schwer zu füllen ist: "Bartgeier brüten erst sehr spät und sie bleiben in der Regel ein Leben lang bei ihrem Partner. Verlieren sie diesen, dann kann es sehr lange dauern, bis sie wieder einen Lebensgefährten finden", meint Knollseisen.

Die Gründe für die Abgänge sind manchmal natürlicher Art -etwa Lawinenabgänge oder Steinschlag – viel zu oft aber sei der Mensch verantwortlich, klagt Knollseisen: Neben den Abschüssen bereiten den Tierfreunden vor allem Bleivergiftungen Sorgen. Das Schwermetall verbirgt sich in Jagdwild, das mit Bleimunition erlegt wurde und im unwegsamen Gelände liegen bleibt, bis die Aasfresser sich darüber hermachen – mit großteils tödlichen Folgen.

Zumindest für Felix und Kilian besteht diese Gefahr vorerst noch nicht. In den ersten sechs bis zehn Wochen nach ihrer Freilassung bleiben die beiden jungen Bartgeier noch in der unmittelbaren Umgebung ihrer Freilassungsnische, wo sich Knollseisen um ihr Wohlergehen kümmert. "Erst vor einer Wochen haben die beiden ihren Aktionsradius auf 500 Meter ausgedehnt, obwohl sie eigentlich schon längst kilometerweit fliegen könnten", erzählt der Wildökologe.

Bis Felix und Kilian weitere Kreise ziehen, wird es wohl noch einige Wochen dauern. Im Winter dürften sie dann schon 30 oder 40 Kilometer weite Ausflüge in die umgebenden Täler unternehmen. "Im nächsten Frühjahr werden sich die beiden dann endgültig von ihrer Kinderstube verabschieden", sagt Knollseisen – und fast wirkt er dabei ein bisschen wehmütig. (Thomas Bergmayr aus Lienz, DER STANDARD, 9.7.2014)