Wien - Ein Staatsbürgerschaftsnachweis hätte Anna N. am 11. Oktober beinahe das Leben gekostet. Den hatte der Angeklagte Nikolaus W. erfolglos gesucht, ehe er der 73-Jährigen am Vormittag an einer Bushaltestelle in Wien ein Holzstemmeisen bis zum Anschlag in den Rücken rammte. Die Frau überlebte die Attacke schwer verletzt. Für Staatsanwältin Anna Fischer ein Mordversuch, für W. ein ihm unerklärlicher Ausraster im Drogenrausch.

"Ich wollte niemanden töten", erklärt der 34-jährige Angeklagte daher zu Beginn auf die Frage von Ulrich Nachtlberger, dem Vorsitzenden des Geschworenengerichtes, ob er sich schuldig bekenne. "Es tut mir unendlich leid."

Die Anklägerin zeichnet von W. das Bild eines schwer gestörten Menschen und will daher neben der Verurteilung auch die Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher erreichen.

In Lagerabteil geschlafen

Der Obdach- und Arbeitslose habe in der Nacht in einem angemieteten Lagerabteil geschlafen. Als er nach dem Aufwachen seinen Staatsbürgerschaftsnachweis, den er zur Vorlage bei einem Amt benötigte, nicht fand, sei er wütend geworden.

"Dann ist er mit der Waffe auf die Straße gegangen, auf der Suche nach einem Opfer, an dem er seine Wut auslassen kann", skizziert Fischer. Es hätte jeder und jede sein können. En passant habe W. mit voller Wucht zugestochen, sei weitergegangen und habe anschließend selbst die Polizei gerufen.

"Die Frau Staatsanwältin versucht meinen Mandanten als tickende Zeitbombe darzustellen, die weggesperrt gehört", kontert Verteidiger Victor Valent. "Aber das stimmt nicht. Ich kenne ihn seit 20 Jahren, wir sind gemeinsam ins Gymnasium gegangen", erzählt er dem Gericht.

Cannabinoide als Schmerzmittel

W. habe nach mehreren schweren Unfällen unerträgliche Schmerzen gehabt, als Therapie gegen diese habe er auch Cannabinoide verschrieben bekommen - als die Krankenkasse die Medikamente nicht mehr bezahlte, sei er auf illegal erworbenes "Gras" umgestiegen.

Nach Job- und Wohnungsverlust sei sein Leben aus den Bahnen geraten, er habe sich bereits ein Seil für den Suizid besorgt, erzählt Valent über seinen Mandanten weiter. "Er war getrieben von Schmerzen und der Frage nach dem Sinn seines Lebens", formuliert er es.

Der letzte Joint vor der Tat müsse auch andere Stoffe enthalten haben, sind der Verteidiger und W. überzeugt - anders sei der Aggressionsausbruch nicht zu erklären.

Drei Vorstrafen

"So ganz persönlichkeitsfremd ist es Ihnen nicht", hält Vorsitzender Nachtlberger gewohnt trocken dem Angeklagten vor. Und spielt damit auf drei Vorstrafen an: Körperverletzung, Sachbeschädigung und gefährliche Drohung.

Der Angesprochene relativiert: Einmal sei es um einen Streit nach einem Fast-Verkehrsunfall gegangen, einmal habe er eine Scheibe eingeschlagen. Dass er Ende Juli 2013 einen Ferialpraktikanten des Wiener Wohnungsservice schriftlich bedroht habe, stimme, aber er habe sich von diesem mehrmals gefrotzelt gefühlt.

Verschwundenes Dokument

Dann versucht er die Sache mit dem Staatsbürgerschaftsnachweis zu erklären. Der sei ihm schon einmal gestohlen worden, das habe er bei der Polizei angezeigt. Drei Tage später sei das Dokument wieder aufgetaucht. Am Tag der Tat habe er es nach einem Joint zum Frühstück wieder in seinem Lagerraum gesucht und war überzeugt, er sei neuerlich bestohlen worden.

"Die Variante, dass Sie den Nachweis einfach verlegt haben, kommt Ihnen nicht in den Sinn?", fragt Nachtlberger nach. Nein, es müsse einen Dieb gegeben haben. "Ein Dieb, der es nimmt, wieder zurückbringt und wieder nimmt?", wundert sich der Vorsitzende.

Er sei jedenfalls wütend und verzweifelt gewesen, sagt der Angeklagte weiter. Aus einem Werkzeugkoffer nahm er sich den Holzmeißel und ging auf die Straße. "Warum?'", fragt Nachtlberger. "Weil ich mir was antun wollte." "Und dann?" "Und dann habe ich zugestochen."

Klare Schilderungen

Der laut psychiatrischem Sachverständigen überdurchschnittlich intelligente Mann hat nur ein Problem: Er kann diese Abläufe alle klar schildern - was seiner Darstellung, im Joint müssten andere Drogen gewesen sein, eher widerspricht.

Gutachter Karl Dantendorfer kommt zum Schluss, W. sei "seit vielen, vielen Jahren psychisch krank und hätte Behandlung gebraucht", erklärt er. Der Mann leide an einer schweren Persönlichkeitsstörung und sei narzisstisch - aber zurechnungsfähig. W.s Gefahr, unbehandelt innerhalb von sieben Jahren wieder rückfällig zu werden, beziffert Dantendorfer mit 55 Prozent.

Womit man in Wahrheit auch eine Münze werfen könnte, wenn es um die Frage einer Einweisung geht. Verteidiger Valent will diese verhindern und bittet auch den Arzt seines Mandanten in den Zeugenstand, der W. als "ganz lieben, unscheinbaren Patienten" beschreibt, eher ängstlich und depressiv.

Schuldig des versuchten Mordes

Am Ende sprachen die Laienrichter den Angeklagten des versuchten Mordes schuldig. W. fasste 16 Jahre Haft und eine Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher aus. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. (Michael Möseneder, derStandard.at, 8.7.2014)