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Muti im Gedenken an den Ersten Weltkrieg und auch an seinen Freund und Kollegen Carlos Kleiber: "Auch wenn wir aus unterschiedlichen Kulturen kamen, teilten wir denselben tiefen Respekt vor unserem Beruf."

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Riccardo Muti dirigiert am 6. Juli ein Konzert aus Anlass des hundertsten Jahrestages des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs in Redipuglia (Friaul), dem größten Militärfriedhof Italiens und zweitgrößten Europas nach Verdun in Frankreich. Das Konzert eröffnet eine Reihe von Gedenkfeiern, die Italien diesem Jahrestag widmet. Der Erste Weltkrieg, die in Italien eigentlich erst 1915 begann und bis 1918 dauerte und als "Grande Guerra" (großer Krieg) bekannt ist, brachte dem Land fast 700.000 Tote - die Opfer unter den Zivilisten nicht einberechnet. Bei einer Bevölkerung von damals 32 Millionen kämpften sechs Millionen Italiener im Krieg. Im "Sacrario di Redipuglia", wie die Gedenkstätte heute heißt, sind über 100.000 italienische Soldaten begraben, von rund 60.000 konnte die Identität nicht festgestellt werden. Im nahen "austro-ungarischen" Friedhof von Fogliano-Redipuglia sind mehrere Tausend österreichische Tote begraben. Der italienische Präsident Giorgio Napolitano nimmt mit seinen Amtskollegen aus Kroatien und Slowenien an dem Konzert teil.

Das Konzert wird von einem gewaltigen Ensemble von 365 Musikern aus zwanzig Ländern aufgeführt: das Orchestra Cherubini und das European Spirit of Youth Orchestra, einzelne Musiker aus verschiedenen Orchestern wie den Wiener und Berliner Philharmonikern sowie dem Chicago Symphony Orchestra, Chöre aus Friaul, Ljubljana, Zagreb und Budapest. Auf dem Programm steht das Requiem von Verdi - ein Stück, als dessen bester Interpret Muti gilt. Die Solisten sind Tatiana Serjan, Daniela Barcellona, Samir Pirgu, Riccardo Zanellato.

In der vergangenen Woche probte Muti noch in Ravenna. In Österreich dirigiert er heuer wieder in Salzburg die Wiener Philharmoniker in drei Konzerten Mitte August. Im Oktober wird er mit dem Chicago Symphony Orchestra, dessen Chef er seit September 2010 ist, im Musikverein in Wien gastieren.

STANDARD: Der Erste Weltkrieg hat zu einem Blutbad geführt und das Gesicht Europas für immer verändert. Was möchten Sie mit diesem Gedenkkonzert ausdrücken?
Muti: Beide Weltkriege, der Erste und der Zweite, mit ihrem Grauen und schrecklichen Blutzoll, die uns noch heute mit Entsetzen erfüllen, stellen für uns alle die äußerste Grenze dar, von der wir fälschlicherweise dachten, diese wäre nicht zu überschreiten.
Heute, hundert Jahre später, ist ein Requiem in Redipuglia eine Ehrung der hunderttausenden Toten. Die Soldaten sind zum Teil für ein Ideal gestorben. Es fanden sich aber auch ganz einfache Menschen unter ihnen, die zu den Waffen beordert wurden, ohne dass sie wirklich wussten wofür. Ein Requiem in Anwesenheit mehrerer Staatsoberhäupter und mit vielen Musikern aus verschiedenen Orchestern aus Europa und den USA bedeutet eine ideelle Versöhnung im Namen einer Völkerbrüderschaft unter Nationen, die sich früher in einem furchtbaren Krieg bekämpft haben und heute in Europa vereint sind.

STANDARD: Es ist schwierig, über Frieden zu einem Zeitpunkt zu reden, zu dem die Welt mit Hass und regionalen Konflikten konfrontiert ist: außer Symbolik - was kann die Musik tun?
Muti
: Musik ist nicht nur Symbolik. Das haben wir mit den vielen Konzerten der Vie dell'Amicizia (Anm.: Wege der Freundschaft, initiiert vom Ravenna-Festival), die vor vielen Jahren in Sarajevo begonnen haben und die jedes Jahr in leidgeprüften Orten fortgesetzt werden, gezeigt. Musik hat immer ihre Fähigkeit bewiesen, Menschen, Völker, Kulturen, Religionen und Rassen zu vereinen, und ermöglicht, sich als Teil eines gemeinsamen Empfindens zu fühlen. Die Bedeutung des Konzerts geht über den spezifischen Anlass hinaus, es ist eine universelle Botschaft angesichts der Tatsache, dass die Lektion aus der Geschichte nicht gelernt wurde.

STANDARD: Für das Konzert haben Sie das Requiem von Verdi gewählt, ein Werk, als dessen weltweit bester Interpret Sie heute gelten. Was bedeutet dieses Werk für Sie?
Muti: Das Requiem von Verdi ist ein Gebet für die Toten, die für den ewigen Frieden bitten, um vom ewigen Tod befreit zu werden. Im Gegensatz zum Requiem von Brahms, das für die Lebenden ist, im Sinne eines Schmerz-Linderns. Das von Verdi ist ein Requiem für die Toten.

STANDARD: Gleich nach Redipuglia, am 7. Juli, dirigieren Sie ein Requiem in Ljubljana zum zehnten Todestag ihres Dirigentenkollegen Carlos Kleiber, mit dem Sie eng verbunden waren: Wie ist diese Hommage entstanden?
Muti
: Wir waren in tiefer Freundschaft verbunden, seitdem er im Jahr 1981 in der Scala in Mailand die Proben von Nozze di Figaro (Die Hochzeit des Figaro) unter der Regie von Giorgio Strehler besucht hat. Er war zu dieser Zeit in Mailand und kam oft zu den Proben, so ist diese Freundschaft entstanden. Sie war vor allem von einem gemeinsamen ethischen Empfinden gegenüber der Musik gekennzeichnet. Auch wenn wir aus unterschiedlichen Kulturen und Ländern kamen, teilten wir denselben tiefen Respekt vor unserem Beruf, der heute eher nachgelassen zu haben scheint. Jedes Konzert, jede Aufführung war durchdacht und wurde durchlitten, es gab kein Fließband, kein industrielles Konzept unserer Tätigkeit. Ich erinnere mich an mein letztes Neujahrskonzert in Wien. Ich rief ihn an, um nach einer Erläuterung zum Csárdás aus der Fledermaus von Johann Strauss zu fragen. Es war genau der Zeitpunkt, an dem seine Frau Stanka gestorben war, und ich wusste es nicht. Trotz seiner Trauer teilte mir Carlos seine Ansichten mit, und vor dem Konzert ließ er den Musikverein wissen, dass er das Konzert im Fernsehen verfolgen würde. Gleich danach meldete er sich wieder und sagte, es war fantastisch und der Csárdás perfekt! Das Band meiner brüderlichen Freundschaft zu ihm soll mit diesem Konzert als Hommage zum Andenken an einen ganz großen Künstler verstanden werden.

STANDARD: Ihre Karriere ist stark von der Beziehung zu den Wiener Philharmonikern, zu Wien und Salzburg geprägt: Werden Sie wieder mit den Philharmonikern eine Oper dirigieren?
Muti
: Die Beziehung zu Salzburg und Wien besteht, ununterbrochen seit 44 Jahren, seit meinem ersten Dirigat bei den Philharmonikern 1971. Ob ich in Österreich wieder eine Oper dirigieren werde, weiß ich nicht, da ich mehr Zeit in Italien verbringen möchte. Opern dirigiere ich in der Regel in Rom oder Ravenna.

STANDARD: Sie waren in Mailland zwischen 1986 und 2005 musikalischer Direktor an der Scala. Nun kommt Alexander Pereira von den Salzburger Festspielen dorthin. Was kann sein Beitrag dort sein? 
Muti
: Ich wünsche ihm viel Glück und hoffe, dass die Scala ihre Identität als italienisches Theater wiederfindet. (Flaminia Bussotti, DER STANDARD, Album, 5./6.7.2014)