Ein eigentümlicher Gegensatz durchzieht die öffentliche Erörterung des spektakulären Kurzbesuchs Wladimir Putins in Wien. Während laut einer in einem Boulevardmedium publizierten Meinungsumfrage 58 Prozent der Bevölkerung die Visite gutheißen, überbieten sich Kommentatoren in den Qualitätsmedien in ihrer Kritik.

Als würde sie ein großes Geheimnis enthüllen, schreibt etwa die Chefredakteurin des Standard, Alexandra Föderl-Schmid: "Wien schert aus EU-Linie aus und agiert nach wirtschaftlichen Interessen".

Doch um zu entdecken, dass es im Kapitalismus immer ums Geschäft geht, braucht es keine besonderen Erläuterungen. Im vorliegenden Fall geht's aber doch um etwas anderes, nämlich darum, ob sich die Idee durchsetzt, die Geschäftsbedingungen durch einen Wirtschaftskrieg verändern zu wollen. Das mag für Rüstungskonzerne und die US-amerikanischen Erdgasexporteure ein gutes Geschäft sein, die Rechnung begleichen würden allerdings, wie in solchen Fällen üblich, die "kleinen Leute", vornehmlich in Europa.

Aggressiv und repressiv

Russland unter Putin sei aber, so heißt es, eine nach außen aggressive und nach innen repressive Macht. Wer wollte seine Partei ergreifen? Doch darum geht es gar nicht. Selbst wenn man diese Einschätzung teilt, verfehlt sie die Kontroverse. Erstens, weil in Kiew nicht weniger repressiv als in Moskau regiert wird, zweitens, weil die Politik der Nato gegenüber Russland keineswegs defensiv und deeskalierend ist. Aber drittens und hauptsächlich, weil man angesichts der Sachlage vernünftigerweise für keine der beteiligten Seiten Partei ergreifen kann.

Was nützt dem Frieden ...

Die wirkliche Frage lautet, was dem Frieden in Europa nützt und was ihm schadet. Hier allerdings ist das Ergebnis eindeutig: Sanktionen schaden und beinhalten das Risiko einer Eskalation bis hin zum Krieg. Dem muss und darf Österreich als neutraler Staat sich nicht anschließen.

Wer die österreichische Zeitgeschichte kennt, weiß übrigens, dass seinerzeit die Argumente gegen eine neutrale Position fast gleichlautend gegen Bruno Kreiskys Nahostpolitik und die von ihm betriebene Diversifizierung des Außenhandels in Richtung Osteuropa vorgebracht wurden. Österreich verkaufe seine Seele, so hieß es, für billiges Erdöl und einige zehntausend Arbeitsplätze in der Verstaatlichten Industrie.

Hier allerdings endet die Parallele, beobachten wir doch einen interessanten Rollentausch. Waren es damals vor allem die Konservativen, angeführt vom Chefredakteur der Presse, Otto Schulmeister, die so argumentierten, so sind es heute die eher linksliberal eingestellten Kommentatoren, während die eher konservativen Vertreter der Bundeswirtschaftskammer sich in europäischer Realpolitik üben.

Im Zweifelsfall gilt aber noch immer, dass Österreich sich 1955 verfassungs- und völkerrechtlich zur "immerwährenden Neutralität" verpflichtet hat. Und das als Ergebnis zweier - übrigens gegen Russland - geführter und verlorener Kriege. Eigentlich ist normal, dass die Regierung sich an die Verfassung und ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen hält. Umso mehr als im Vertrag von Lissabon auch seitens der EU der besondere Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der einzelnen Mitgliedsstaaten respektiert wird. Damit aber ist nicht nur die Nato-Mitgliedschaft der einen gemeint, sondern auch die Neutralität der anderen, die wie Österreich auch das Recht haben, sie selbst auszugestalten.

Mit der inneren Verfasstheit von Russland oder einer Sympathie für Putin hat alles das nicht das Geringste zu tun. Wären das nämlich Kriterien der Außenpolitik, so müsste man die Beziehungen zu sehr vielen Staaten sofort abbrechen. Ich erspare mir an dieser Stelle die Beispiele. Nur, in welcher Welt würden wir dann leben?

... und was schadet ihm?

Was mich beunruhigt, ist die Verantwortungslosigkeit, mit der geschrieben und geredet wird, als ginge es um eine Kleinigkeit. In Wahrheit steht eine langfristige Weichenstellung in den Beziehungen der EU zu Russland zur Debatte. Das aber ist die Frage von Krieg und Frieden in Europa.

Glaubt man denn, dass Kriege nur in Asien und Afrika geführt werden können? Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Und wird die Politik auf Konfrontation ausgerichtet, dann folgt ihr früher oder später der Krieg. Wer den Frieden will, muss alle Wege nützen, um Friedenspolitik zu betreiben. Dazu ist die völkerrechtliche Neutralität ein geeignetes Instrument, auch für ein EU-Mitglied. Bedarf das am Zentenarium des Ersten Weltkriegs noch einer ausführlichen Begründung? Sind die Gedenkfeiern wirklich nichts weiter als weltverlorene Folklore? (Walter Baier, DER STANDARD, 1.7.2014)