Trojanows Operama

Unser gegenwärtiges Opernleben ist reichhaltig, aber ist es auch relevant? Auf subjektiv eigenwillige Weise, in einem literarischen Ton, wird Ilija Trojanow die Bedeutung des Musiktheaters heute anhand von aktuellen Aufführungen in Wien und anderswo unter die Lupe nehmen. Und sich immer wieder die Frage stellen, ob und wie sich unsere Zeit in den Inszenierungen widerspiegelt. Hintergrundberichte, Porträts und Interviews runden das Operama ab.

Das Kind und die Zauberdinge – Maurice Ravel
Die Nachtigall – Igor Strawinsky
Badisches Staatsoper Karlsruhe, 24. Juni 2014

Bild: Oliver Schopf

Vielleicht haben sich Maurice Ravel und Colette an der Front nahe Verdun getroffen. Sie diente als Krankenschwester in einem Lazarett, er durfte einen Militärlastwagen fahren, nachdem er zu Kriegsbeginn, patriotisch entbrannt wie viele andere ("guerre sainte"), zu seiner herben Enttäuschung ausgemustert worden war. Und wenn sie sich gesehen haben sollten, hätten sie sich gleich erkannt, denn sie verkehrten vor dem Krieg in denselben Pariser Salons. Ob sie einander nun begegnet sind oder nicht, beide haben im Ersten Weltkrieg die Zertrümmerung der Zivilisation und die Zerstückelung des Menschen erfahren und sind darüber zu Pazifisten geworden. Der Einakter, den sie zusammen verfasst haben, ein fabelartiges Märchen von leidenden Gegenständen und einem destruktiven Menschen, verweist zwar nicht direkt auf den Krieg, aber indem es vom Regisseur Tobias Heyder als Traum eines Traumatisierten im Lazarett eingeklammert wird, verändert sich alles hin zum Bedrohlichen und Düsteren. Erstaunlich und beeindruckend, wie ein so einfacher dramaturgischer "Kniff" die Tiefenschichten eines oberflächlich betrachtet leicht misszuverstehenden Märchens spürbar und sichtbar machen kann. Die starken surrealistischen Elemente sind als Verschiebungen eines real existierenden Wahns verständlich. Die vermeintliche Naivität des Librettos wird als dünner Firnis entlarvt, hinter der eine große Angst lauert. Die mit menschlichen Zügen ausgestatteten Objekte sind Opfer eines aggressiven Kindes, das mit dem eigenen gewaltsamen Verhalten konfrontiert zu Einsicht und Reue getrieben wird.

Foto: Jochen Klenk/BADISCHES STAATSTHEATER

Noch bemerkenswerter ist, wie das Wesen des Bösen reflektiert wird in einer Musik, die an fulminanter Vielfalt kaum zu überbieten ist (ich kenne keine anderen 45 Minuten aus dem Opernrepertoire, die einen so unentwegt überraschen) — ein wahres Feuerwerk an musikalischen Ideen und Anleihen: von Barock bis Jazz. So wie auf der Bühne der Hirtengobelin zerrissen wird, offenbart sich in der Musik von Ravel immer wieder ein doppelter Boden, der etwa hinter dem 2/4-Takt eines barocken Tanzes schon den Rhythmus der Salven anklingen lässt.

Foto: Jochen Klenk/BADISCHES STAATSTHEATER

Strawinskys "Die Nachtigall" fällt leider danach etwas ab, zum einen, weil sie sich weniger gut in das Regiekonzept eingliedern lässt (ein weiterer Traum im Lazarett, aber nun weniger zwingend denn erzwungen). Zum anderen, weil diese über viele Jahre hinweg entstandene Kurzoper die Brüche ihres Entstehens wie Narben in sich trägt, der erste Teil impressionistisch wirkt, der zweite von harten Rhythmen durchsetzt ist, der dritte hingegen ins Expressionistische strebt. Vor allem aber, weil dieses Werk trotz seiner Kürze und der prägnanten Märchenvorlage von Hans Christian Andersen ein wenig langatmig wirkt.

Höhepunkt: Die großartigste Schulszene in all of opera (Ravel).

Tiefpunkt (Extrarubrik aus besonderem Anlass): Das durch Strawinskys Ouvertüre hindurch — dem Höhepunkt der Oper — permanent plaudernde Publikum. 

Coda: Als ich das Opernhaus in Karlsruhe betrat, sah ich vor meinem inneren Auge noch die Nahaufnahme des Rückens eines italienischen Fußballers, der einige Minuten zuvor gebissen worden war, zu sehen auf großer Leinwand vor dem Staatstheater, hinter dem gewaltigen trojanischen Pferd. (Ilija Trojanow, derStandard.at, 30.6.2014)