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In provisorischen Lagern, oft ohne Duschen oder Betten, sind tausende Migranten an den Grenzen der USA untergebracht. Die meisten von ihnen werden wieder in ihre Heimat zurückgebracht.

Foto: reuters

Puebla - "Ich habe nichts zu verlieren. Schlimmer kann es nicht werden." Den Satz hört Pfarrer Alejandro Solalinde häufig - immer wenn wieder einmal ein Güterzug in Ixtepec eintrifft und Scharen von Migranten von den Dächern klettern, um sich in der kirchlichen Unterkunft im Süden Mexikos auszuruhen. Sie kommen aus Mittelamerika und sind auf dem Weg in Richtung USA.

Heute sind es wieder knapp tausend, die der Pfarrer in den zwei kargen Schlafsälen unterbringen muss. Viele schlafen letztlich auf Pappkarton, Decken und alten Matratzen im Speisesaal. So geht es tagaus, tagein. Ein nicht abreißender Strom von Menschen, die auf der Flucht vor Gewalt und Misswirtschaft in ihrer Heimat sind.

Gerüchte über Amnestie

Waren es früher vor allem Männer, sind es inzwischen immer mehr Familien, Frauen - hochschwanger oder mit Säuglingen - und Teenager, die sich allein auf den Weg machen. Auslöser war offenbar die Diskussion im US-Kongress über ein neues Migrationsgesetz und das von Menschenschleppern gestreute Gerücht, alleinreisende Minderjährige würden amnestiert.

"Der Ansturm von Kindern, den wir derzeit erleben, ist beispiellos", sagt der US-Prediger Robin Hoover. Viele waten durch den Grenzfluss und stellen sich dann freiwillig den Grenzschützern auf der anderen Seite. Seit Oktober hat der US-Grenzschutz nach Angaben der US-Botschaft in Mexiko 52.000 Minderjährige aufgefangen; bis Jahresende könnten es 90.000 werden, sechsmal mehr als im Jahr 2011.

Flucht vor der Gewalt

Die meisten davon stammen aus Guatemala, El Salvador und vor allem aus Honduras, dem Land mit der höchsten Mordrate weltweit, einem gescheiterten Staat, der von einer korrupten Elite ausgeblutet wird und in dem sechs von zehn Einwohnern unter der Armutsgrenze leben. Auch Pablo (Name geändert) kommt von dort, aus San Pedro Sula, einer Stadt, in der voriges Jahr 1400 Menschen ermordet wurden.

Der 16-Jährige sprang kürzlich bei Solalinde vom Zug, zusammen mit zwei Freunden im Alter von 15 und 17 Jahren. Sein Vater lebt längst in den USA, die Mutter war auf dem Weg dorthin spurlos verschwunden. Die Tante, bei der er aufwuchs, eine lieblose Tyrannin, der Onkel, ein prügelnder Säufer, das Stadtviertel ein Elendsquartier, in dem sich brutale Jugendgangs einen Krieg um Drogen und Schutzgelderpressung liefern.

"Ich habe ihm natürlich erzählt, wie gefährlich der Weg in die USA ist, dass unterwegs Entführer, Mörder, Drogenhändler und korrupte Grenzbeamte lauern", erzählt Pfarrer Solalinde. Einige Monate später kehrte Pablo zurück, verhärmt und geschunden. Das Drogenkartell der "Zetas" hatte die drei Jungs kurz vor der Grenze aufgefangen, halb totgeschlagen und zwangsrekrutiert. Pablo bekam eine Pistole in die Hand und musste Entführungsopfer bewachen. Bei einer Razzia konnte er lebend entkommen und kehrte in Solalindes Herberge zurück. "Zwei Wochen war er hier. Als er wieder Mut gefasst hatte, machte er sich erneut auf den Weg", erzählt der Pfarrer. Seither hat er keine Nachricht mehr von Pablo erhalten.

Abschiebung Minderjähriger ist komplexer

Die rechtliche Lage der minderjährigen Migranten ist komplex - das schürt die Hoffnung vieler Eltern. Denn Minderjährige dürfen laut einem Kinderschutzgesetz nicht sofort abgeschoben werden. Sind sie aus Mittelamerika, müssen Flüge und eine konsularische Rückführung organisiert werden.

Jeder Einzelfall ist anders gelagert. Manche warten nach einer Familienzusammenführung jahrelang, bis eine Entscheidung über ihr Bleiberecht gefällt wird. Die Einwanderungsgerichte sind hoffnungslos im Rückstand, seit Mai ist die Situation zu einer humanitären Notlage eskaliert. Die Grenzschützer improvisierten für die vielen alleinreisenden Kinder Notunterkünfte in Kasernen und Warenhäusern. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Medien Fotos veröffentlichten, auf denen Kindern in Käfigen und schwangere Mütter in brütender Hitze neben Chemieklos zu sehen waren.

Eine Riesendebatte brach vom Zaun, und US-Präsident Barack Obama bat seinen mexikanischen Amtskollegen Enrique Peña Nieto um Hilfe. Sein Vizepräsident Joe Biden las auf einer Krisensitzung in Guatemala den mittelamerikanischen Präsidenten die Leviten und drohte, alle Kinder zu deportieren. Gleichzeitig versprach er wirtschaftliche Hilfe für die Integration der Rückkehrer - wenn im Gegenzug die Regierungen alles unternehmen, um die Migranten zu stoppen. (Sandra Weiss aus Puebla, DER STANDARD, 25.6.2014)