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Die Festnahme des Attentäters Gavrilo Princip kurz nach dem Attentat am 28. Juni 1914: für Österreich-Ungarn ein willkommener Anlass, den Krieg gegen Serbien endlich zu beginnen.

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Die kanadische Historikerin Margaret MacMillan analysiert die politischen Zusammenhänge, die zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führten.

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STANDARD: Sie bezeichnen den Ersten Weltkrieg als Puzzle und fragen, wieso Europa ihn nicht verhindert hat. Haben Sie eine Antwort gefunden?

MacMillan: Nein, aber ich glaube, der Krieg wäre nicht notwendig gewesen. Es gab im gleichen Ausmaß Kräfte, die sich für Frieden eingesetzt haben. Man kann erklären, wie es zum Ausbruch gekommen ist, aber es gibt nicht nur eine Person, die es geschehen hat lassen. Die Frage ist, in welchem Ausmaß die kriegstreibende Kräfte in den einzelnen Ländern interagiert haben, sodass es zur Katastrophe gekommen ist.

STANDARD: Sind Sie überzeugt, dass der Krieg hätte verhindert werden können?

MacMillan: Ja, Europa hat einige Male davor schon Krieg vermeiden können. Es gab ernsthafte Krisen in Marokko, Bosnien oder Auseinandersetzungen auf dem Balkan. Jedes Mal haben sich die Menschen vor einem Krieg gefürchtet, Europa ist davor zurückgeschreckt. Auch 1914 wäre das möglich gewesen.

STANDARD: Was war 1914 schließlich anders?

MacMillan: Es gab das gefährliche Gefühl der Selbstzufriedenheit und des Wohlbehagens, weil eben bereits Krieg vermieden werden konnte. Als Franz Ferdinand umgebracht wurde, dachten viele zunächst, dass es nur eine weitere, bewältigbare Krise sei. Der Erfolg der Vergangenheit hat zu einer falschen Einschätzung der Situation geführt. Für viele Menschen und auch Länder war es mittlerweile selbstverständlich, zu bluffen und den militärischen Druck auf andere Länder zu erhöhen. Dadurch bestand die Gefahr, einmal zu weit zu gehen.

STANDARD: Welche Rolle spielt hier die Bevölkerung? Hat Sie auch Druck ausgeübt?

MacMillan: In manchen Ländern hatte die herrschende Elite große Angst davor, dass eine Revolution von unten kommt. Für sie war der Krieg jedenfalls eine Möglichkeit, die Gesellschaft näher zusammenzubringen und die Bevölkerung patriotischer zu machen, damit sie die Differenzen vergessen. Für Deutschland zum Beispiel war der Krieg auch ein Vorwand, um hart gegen Sozialisten vorzugehen. Viele deutsche Historiker machen ja nur den nationalen Druck für den Krieg verantwortlich.

STANDARD: Und wie war es in anderen Ländern?

MacMillan: In Russland gab es eine Entschlossenheit, nicht wieder einen Rückzieher zu machen und Schwäche zu zeigen. Hätte Russland wieder eingelenkt und Serbien nicht unterstützt, wäre das aus russischer Sicht kein gutes Signal einer Weltmacht gewesen. Und für die österreichischen Machthaber war es die Chance Serbien zu zerstören.

STANDARD: War die Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand für Österreich-Ungarn ein willkommener Anlass, einen Krieg zu beginnen?

MacMillan: Ja, es war eine Möglichkeit, ihn zu beginnen. Die Regierung war auch dazu entschlossen. Conrad von Hötzendorf, Chef des Generalstabs, hatte sich schon davor für einen Krieg gegen Serbien ausgesprochen. Nach dem Attentat wollte er Serbien nicht davonkommen lassen. Das Ironische daran ist, dass ausgerechnet Franz Ferdinand zu den wenigen gehörte, die keinen Krieg wollten. Durch seine Ermordung haben die Attentäter auch eine rationale Stimme getötet. Österreich-Ungarn hat damit gerechnet, dass Russland reagieren werde. Das Risiko sind sie bewusst eingegangen. Deutschland hat Österreich einen Blankoscheck gegeben, sie auf jeden Fall zu unterstützen. Das war natürlich sehr gefährlich.

STANDARD: Es gab aber nicht nur einen Angreifer, es war ein Dominoeffekt.

MacMillan: Viele Länder hatten bereits militärische Pläne und waren darauf vorbereitet, Krieg als Mittel für ihre Zwecke einzusetzen. Aber in der Juli-Krise war es schon Österreich, das eben Deutschland und Russland mithineingezogen hat.

STANDARD: Was unterscheidet den Ersten Weltkrieg von anderen vorhergegangenen Kriegen?

MacMillan: Die Auswirkungen waren besonders groß, es war ein Weltkrieg, wo in Europa, Asien oder aber auch im Nahost gekämpft wurde. Der Grad der Zerstörung war immens, dieser Krieg hat sehr viel mehr Menschen betroffen als beispielsweise die Napoleonischen Kriege. Es gab Millionen Tote, horrende Kosten wurden verursacht: War es doch auch der erste industrielle Krieg.

STANDARD: Der industrielle Krieg hat sich auch durch den Einsatz von Giftgas gezeigt.

MacMillan: Im 19. Jahrhundert hat Europa gelernt, sein Volk besser zu ernähren und am Leben zu erhalten, gleichzeitig ist Europa aber auch besser darin geworden, es umzubringen. Das ist die Ironie dieser Geschichte.

STANDARD: Der Historiker Eric Hobsbawm beschreibt das 20. Jahrhundert als Zeitalter der Extreme. Waren es die Extreme, die zum Ersten Weltkrieg geführt haben?

MacMillan: Europa hat sich verändert, die Staatsbürgerschaft ist stärker in den Vordergrund gerückt, viele Menschen haben sich mehr zugehörig gefühlt, und es durften mehr wählen. Es war nicht mehr eine Armee gegen eine andere Armee, es war eine Nation gegen eine andere Nation. Damit werden auch Frauen und Kinder zum Ziel, weil sie Teil des Feindes sind. Der Krieg dehnt sich auf die ganze Gesellschaft aus, aber noch extremer war das beim Zweiten Weltkrieg.

STANDARD: Was hat dazu geführt?

MacMillan: Es gab gesellschaftliche Veränderungen, eine stärkere Politisierung und politische Partizipation. Das geht zurück bis zur Französischen Revolution, als das Verhältnis zwischen Bevölkerung und Herrscher neu definiert wurde - die Machthaber werden gewählt. Das gibt der Bevölkerung auch die Verantwortung, das Land zu verteidigen.

STANDARD: Sie schreiben: "Ideen und Gefühle haben nationale Grenzen überwunden", was meinen Sie damit?

MacMillan: Es ist ein Fehler zu sagen, "die Deutschen waren anders als die Österreicher oder als die Russen". Es gab Ideen wie Sozialdarwinismus, Nationalismus oder revolutionäre Ideen, die nicht nur auf ein Land bezogen waren, sondern die sich durch die europäische Gesellschaft gezogen haben. In Großbritannien gibt es die These, dass die Deutschen wegen sozialdarwinistischer Ambitionen den Krieg wollten. Das ist falsch. Das gab es in ganz Europa.

STANDARD: Nach dem Ersten Weltkrieg haben sich aber Kommunismus, Faschismus und Nationalismus etabliert.

MacMillan: Nationalismus war sowohl eine Ursache als auch eine Folge. Es ist auch möglich, dass Kommunismus und Faschismus sowieso gekommen wären, die Ideen gab es ja schon vorher. Aber sie sind durch den Krieg attraktiver geworden. Viele Faschisten, aber auch Kommunisten wurden im Militär sozialisiert und haben an der militärischen Disziplin gefallen gefunden. Beide Ideologien waren sehr militärisch organisiert. Die europäische Gesellschaft ist durch den Krieg verroht. Davor hatte die Bevölkerung einigermaßen stabile Verhältnisse, ihr Leben hat sich von einem Tag auf den anderen geändert.

STANDARD: Stimmt es, dass die Kriegsbegeisterung in weiten Teilen der Bevölkerung sehr groß war?

MacMillan: Das ist ein Mythos. Viele konnten auch nicht glauben, dass das wirklich passiert. Aber in fast jedem europäischen Land hatte die Bevölkerung das Gefühl, angegriffen zu werden, deshalb dachte sie, dass Krieg die einzige Möglichkeit sei. Daher war die Unterstützung aus der Bevölkerung zumindest 1914 noch groß.

STANDARD: Wie sehr hat der Erste Weltkrieg den Zweiten Weltkrieg beeinflusst?

MacMillan: Er hat nicht direkt dazu geführt, aber er hat mit Sicherheit Voraussetzungen dafür geschaffen. Deutschland hat ein Trauma erlitten, war eine instabile Republik, das alles hat Adolf Hitler geholfen.

STANDARD: ... und Nationalismen verstärkt?

MacMillan: Deutschland war schon davor nationalistisch, aber der Erste Weltkrieg hat es als Nation gedemütigt. Man hat nicht akzeptieren wollen, dass man verloren hat. Die Weltwirtschaftskrise ist sicherlich auch ein sehr wichtiger Faktor für den Zweiten Weltkrieg. Dadurch haben sich die Menschen Extremen wie Kommunismus und Faschismus zugewandt. (Marie-Theres Egyed, DER STANDARD, 25.6.2014)