Tripolis/Kairo - Am vergangenen Wochenende war Sirte an der Reihe. Die Verfassungskommission hatte in den Ouagadougu-Konferenzkomplex geladen. Gewöhnliche Interessierte, Notabeln, Lokalpolitiker und Vertreter der Zivilgesellschaft diskutierten über die neue Verfassung, die das 60-köpfige Komitee erarbeitet. Die Gruppe gilt als einer von wenigen Lichtblicken im libyschen Politchaos.

An ihrer Spitze stehen zwei bekannte liberale Politiker. Präsident ist Ali Tarhouni, der bis zur Revolution im Februar 2011 in den USA Ökonomie lehrte. Sein Stellvertreter ist Menschenrechtsanwalt Abdul Hafez Ghoga, der während der Revolution als Sprecher des Nationalen Übergangsrates über Libyen hinaus ein prominentes Gesicht wurde. Die Kommission tagt in Al-Bayda, der Stadt im Osten, die schon zu Königszeiten Parlamentssitz war und sich in der Revolution als erste vom Gaddafi-Regime befreite.

Die Kommission hat sich zum Ziel gesetzt, den Puls der Menschen zu fühlen und sich deren Vorstellungen anzuhören. Das ist nicht immer ungefährlich. Mitte Juni flog eine Delegation nach Kufra in den unruhigen Süden. Nach unbestimmten Drohungen musste der Tower das Flugzeug auf die Landebahn eines nahegelegenen Ölfeldes umleiten. Unter den islamistischen Extremisten gibt es Gruppen, die von Demokratie nichts wissen wollen und gegen alles kämpfen, was nicht in ihr engstirniges Weltbild passt.

Das 60-köpfige Gremium hat sich in den letzten Monaten aus allen politischen Querelen herausgehalten. Es hat es abgelehnt, das Parlament zu ersetzen und hat auch Nein gesagt, als der Chef der Justiz den Vorschlag eines umfassenden nationalen Dialogs machte, der unter der Ägide der Verfassungskommission hätte stattfinden sollen. Auch zur Operation "Würde" gegen islamistische Extremisten von Exgeneral Khalifa Haftar hat es nicht Stellung genommen. Die mit einer geringen Stimmbeteiligung im Februar gewählte Kommission hat sich so Anerkennung verdient.

Viele offene Fragen

Ihre Arbeit ist ohnehin nicht einfach. Sie hat mehrere heikle Fragen zu klären. Unbestritten ist, dass die Scharia, das islamische Recht, die Grundlage ist. Gestritten wird aber darüber, ob sie die "wichtigste" Quelle des Rechts oder die "einzige" ist.

Zentral ist auch das Regierungssystem. Viele Libyer glauben trotz 30-jähriger Diktatur im Land, es brauche einen starken Präsidenten, um den fragilen Staat zusammenzuhalten. Dann muss eine Lösung für die nach Autonomie strebenden Regionen im Süden und Osten gefunden werden. Und schließlich müssen die Rechte und Freiheiten definiert werden. Konservative haben Einwände gegen zu viele Frauenrechte, ethnische Minderheiten verlangen Gleichstellung, damit sie sich am demokratischen Prozess beteiligen. Daher wird die Kommission ihre Arbeit wohl nicht in den vorgesehenen 120 Tagen, also bis 19. August, beendet haben. (afr, DER STANDARD, 25.6.2014)