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Martin Schulz muss es schmerzen, dass sein respektierter Kollege Juncker und nicht er selber die Führung der Kommission übernimmt.

Foto: REUTERS/Thomas Peter

Martin Schulz hatte einen Traum. Der Sozialdemokrat aus Deutschland wollte Präsident der EU-Kommission werden, nach einem persönlich mit hohem Einsatz geführten Wahlkampf, als gemeinsamer Spitzenkandidat von Europas Roten, mit linken Parolen und einem Programm, das sich in ganz wesentlichen Punkten von jener Politik unterscheiden sollte, die seit zwanzig Jahren von der Spitze der EU-Kommission angetrieben wurde.

Damals, 1994, hatte mit dem gemäßigten Christdemokraten Jacques Santer aus Luxemburg eine Epoche begonnen, die bis heute in Richtung konservativ-liberal verstärkt wurde: zunächst mit dem Italiener Romano Prodi 1999, und dann noch viel stärker mit dem Portugiesen José Manuel Barroso, der zuletzt nur noch als Kommissionschef von Angela Merkels, David Camerons und (bis 2012) von Nicolas Sarkozys Gnaden runteradministrierte.

Geschichte wiederholt sich

An diesem Punkt stehen wir jetzt gerade, eine Woche vor jenem EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs, bei dem Jean-Claude Juncker zum neuen Präsidenten der EU-Kommission nominiert werden wird – mit großer Wahrscheinlichkeit jedenfalls, und notfalls gegen den Willen des konservativen EU-Skeptikers Cameron, der selber als Premierminister bereits ein Abschusskandidat ist.

Also steht wieder ein gemäßigter Christdemokrat als Chef der EU-Zentralbehörde vor der Tür. Geschichte wiederholt sich, könnte man meinen. Aber das stimmt so auch nicht. Denn Juncker ist auf seine ganz spezielle Weise und in Sachen Europapolitik ein Verwandter von Schulz: eine Art sozialdemokratischer Christdemokrat, der in dreißig Jahren Regierungserfahrung in seinem Land immer eine starke Sozialpolitik verfolgte – neben dem Ankurbeln des Finanzsektors als Geldmaschine. Dass der Mindestlohn in Luxemburg mehr als doppelt so hoch ist wie im Rest der Union, und Juncker einen solchen auch auf EU-Ebene einführen will, ist dafür nur ein Beispiel.

Umso mehr muss es nun Martin Schulz schmerzen, dass sein respektierter Kollege Juncker und nicht er selber die Führung der Kommission übernimmt. An der "Sozialisierung" der europäischen Politik hätte der eingefleischte Sozi und Proeuropäer aus Würselen bei Aachen gerne mitgemacht: Er, der Sohn des Polizisten, mit Juncker, dem Sohn eines Hüttenarbeiters aus einem Dorf im Luxemburgischen.

Ein zerplatzter Traum

Aber das wird es nun nicht spielen, weil Schulzens Traum zerplatzt ist: nicht nur der vom Präsidentenamt, sondern auch sein Plan B, jetzt in einer großen Koalition aus EVP und S&D den Vizepräsidenten von Juncker zu geben. Da stand die deutsche Kanzlerin Merkel vor, die schon mit dem aufmüpfigen Luxemburger ihre Not hat, weil der ihr gerne widerspricht, wenn sie orthodoxe Sparpolitik diktiert. Ein Duo Juncker-Schulz aber, das hat sie verhindert. Das ist der Grund, warum SPD-Chef Siegmar Gabriel zuletzt auch offiziell klein beigegeben hat und auf den Anspruch der deutschen Roten auf einen Posten in der EU-Kommission – für Schulz – verzichtet hat.

Aus diesem Spiel ist Schulz draußen. Auch eine kleine Tragödie. Denn er hat das System, dass die europäischen Parteifamilien mit einem Spitzenkandidaten antreten, und der Wahlsieger dann von den Staats- und Regierungschefs zum Kommissionspräsidenten nominiert wird, um sich eine Mehrheit im Parlament zu suchen, zwar nicht erfunden. Das haben die Christdemokraten getan, im Jahr 2002 im Zuge des damaligen EU-Reformkonvents, auch wenn heute einige so tun, als hätten sie mit dem Teufelszeug "Spitzenkandidat" nichts zu tun. Orbán zum Beispiel, der 2002 als Ministerpräsident dabei war.

Schulz war es aber, der die Wahlkampagne als Spitzenkandidat mit seinen Parteien schon vor zweieinhalb Jahren generalstabsmäßig vorbereitet hat, als er zum Präsidenten des EU-Parlaments gewählt wurde. Die Bürger direkt ansprechen und stärker einbinden, die europäische Politik stärker zu demokratisieren (und, ja, auch zu popularisieren!), das war das Hauptprogramm des Martin Schulz. Ganz abgesehen davon, dass der ehrgeizige SPDler ganz nach oben wollte, was werden wollte in der Exekutive.

Trostpflaster für Schulz

Was wird nun also aus Schulz, der sich – auch vom politischen Gegner durchaus anerkannt – zu einer starken Politikerfigur in der EU hochgearbeitet hat? Nachfolger von Herman van Rompuy als Präsident des Europäischen Rates kann er nicht werden, da er nie Kanzler war. Das würden die Kollegen Regierungschefs im Rat nie akzeptieren.

Und Nachfolger von Catherine Ashton als Hoher Repräsentant der EU-Außenpolitik kann er auch nicht werden. Dieser Posten ist gemäß EU-Vertrag mit dem Amt eines Vizepräsidenten der EU-Kommission verbunden. Und da ist – siehe oben – Angela Merkel vor. Sie besteht auf einem Kommissar aus der CDU.

So blieb also die Idee, dass Schulz weiterhin bzw. wieder Präsident des Europäischen Parlaments ist. Das werden die europäischen Sozialdemokraten in Paris vorschlagen. Es ist letztlich nur ein Trostpflaster für Schulz. Denn der hatte offenbar bis zuletzt geglaubt, es werde sich doch ausgehen mit der Kommission.

Sonst wäre er kaum am vergangenen Mittwoch als Parlamentspräsident zurückgetreten, um Hannes Swoboda als SP-Fraktionschef abzulösen, nur um sich bis Dienstag erneut als Kandidat für das Amt des Parlamentspräsidenten zu bewerben. Dafür gibt es eine Frist, vor dem EU-Gipfel. Das Ganze sieht jetzt ein bisschen konfus aus. Schulz hätte das eleganter haben können.

Verheißung turbulenter Debatten

Aber sei’s drum. Letztlich dürfte ein Dakapo von Schulz als EU-Parlamentspräsident sogar eine sehr gute Lösung im Sinne des Ausbaus der Demokratie und der Transparenz in der Union. Juncker an der Spitze der Kommission, Schulz im Parlament, das hat was. Denn der Deutsche hat seit Anfang 2012 bewiesen, dass er dem Parlamentarismus in der EU eine sehr starke Stimme geben kann. So offen und offensiv hat sich noch kein Parlamentspräsident zuvor mit den sich allmächtig wähnenden Regierungschefs angelegt.

Und es kommt dazu, dass die Arbeit im Europaparlament durch das Erstarken der EU-Skeptiker und Rechtspopulisten bis Rechtsextremen in den kommenden Jahren vor eine ganz besondere Herausforderung gestellt wird. Das beginnt schon bei den Abläufen aller Plenardebatten in Zukunft. Die britischen EU-Skeptiker mit den polnischen Nationalisten haben die Liberalen als drittstärkste Kraft verdrängt, und die ebenfalls EU-skeptische Linksfraktion hat die Grünen nach hinten geschoben, knapp dran die Rechtsfraktionen.

Das verheißt ziemlich turbulente Debatten, bei denen es hin und her geht. Ein erfahrener starker Präsident, der gleichzeitig aber auch die deutliche Mehrheit für einen Weiterbau der Integrationspolitik repräsentiert, ist da mit Sicherheit kein Nachteil - insofern muss sich Schulz gar nicht kränken über das Zerplatzen seines Traumes. Er wird im Europaparlament vermutlich mehr gebraucht als in der Kommission. (Thomas Mayer aus Brüssel, derStandard.at, 21.6.2014)