"Women are beautiful": Winogrand-Foto aus der gegenwärtig in der Westlicht-Galerie gezeigten Schau.

Foto: Westlicht

Wien - Starker Weitwinkel, schiefer Horizont, die Stufen zu einem Museum, auf ihnen ein Paar im Gespräch, die Frau im Minirock unter einem bodenlangen Mantel, die Füße ausgestellt: Es könnte fast ein Modefoto aus den Sechzigern sein, aus denen dieses Bild auch stammt.

Aber nur fast. Dann in seinem düsteren Schwarz-Weiß und seiner ungestellten Zufälligkeit statt gefälliger Pose signalisierte Garry Winogrand eher Großstadt, Tempo, sich kreuzende Schicksale. Auch wenn die Frau Make-up tragen mag, das Foto ist im weiteren Sinn ungeschminkt, schnell eingefangen. On the fly.

Winogrand (1928-1984) war ein Meister solcher Bilder. Einer, der seine unauffällige und leise Leica stets bei sich trug und wartete, was ihm vor die Linse kam, vor allem die Menschen in Städten wie seinem heimatlichen New York. Women are beautiful betitelte die Westlicht-Galerie in der Wiener Westbahnstraße ihre Schau von 85 Fotos, basierend auf einem gleichnamigen Buch von 1975, aber nicht darauf beschränkt.

Der Titel ist ein wenig irreführend. Denn es geht nicht nur um Frauen und schon gar nicht nur um schöne. Die Schau handelt auch nicht "nur" von Straßen (das Prädikat "Street Photographer" mochte Winogrand nicht) oder Städten, vielmehr von allem, was vor den Augen des Fotografen sich abspielte, entwickelte, zusammenprallte. Darin war er seinen Vorbildern Walker Evans und Robert Frank ähnlich. "Meine Aufgabe ist es, die Welt in ein eindeutiges Bild zu verwandeln", sagt er in einem Video, das in der Galerie zu sehen ist. Er fühle sich für zwei Sachen zuständig: was er im Sucher sehe und wann er auslösen müsse.

Winogrand löste vor allem aus, wenn sowohl das Sujet wie die formalen Voraussetzungen passten. Er beherrschte die ehemals selbstverständlichen, durch die ins Irre gesteigerte Produktion von Handybildern verschüttgehenden Tugenden spannender Fotos: immer wieder Gegenlicht, fast nie Blitz, eine stimmige Kadrierung.

So entstand ein Panoptikum der Sechziger- und Siebzigerjahre, mit Resten von Nachkriegszeit, deutlichen Signalen einer neuen (Jugend-)Kultur und vielen kleinen Details, die das Leben in US-Metropolen so eigen erscheinen ließen. Um die Stimmungen und Spannungen jener Zeit im Umbruch einzufangen, kam Winogrand manchmal der Zufall entgegen. Eine junge Frau mit einer Eistüte in der Hand lacht aus vollem Herzen über etwas; hinter ihr im Schaufenster eine steife Jacke, Hemd und Krawatte an einer Kleiderpuppe - ohne Kopf.

Das Kabinett der Galerie ist dem tschechischen Fotografen Miroslav Tichý (1926-2011) gewidmet. Er war ein ähnlich besessener Fotograf wie Winogrand. Aber während der Amerikaner ein Star seines Metiers war, werkelte der Einzelgänger Tichý obsessiv mit selbstgebastelten Apparaten an einem OEuvre, das hauptsächlich aus heimlichen Porträts von Frauen besteht und für das er erst gegen Lebensende Anerkennung, ja Kultstatus genoss.

Gemeinsam zeigen die beiden Schauen das weite Feld einer Technik und einer Kunst, die fast zwei Jahrhunderte alt ist und immer noch faszinieren kann. Photos are beautiful. (Michael Freund, DER STANDARD, 20.6.2014)