Gelungene Architektur, aber Tristesse auf den meist leeren Straßen prägt das Stadtviertel Nordbahnhof. Die Stadt Wien hat zu wenig Geschäftslokale vorgesehen, sagen Kritiker. 

Christian Fischer

Der Rudolf-Bednar-Park ist das grüne Herz des Wohnviertels am Nordbahnhof. Doch auch dort pulsiert das Leben nicht.

Christian Fischer

Wien - "Eine Melange auf Tisch sechs! Eine Kardinal auf die Zwei draußen, bitte, danke!" In der Café-Bäckerei Ullmann herrscht Hochbetrieb. Kellnerinnen, vier Stück an der Zahl, rennen kreuz und quer durch die leicht auf Rokoko-Vintage getrimmte Konditorei und bedienen Publikum von jung bis alt. Früher war das Ullmann ein klassisches Kaffeehaus in der Wolfgang-Schmälzl-Gasse, drüben im historischen Stuwerviertel. Doch seit dem Umzug ins Erdgeschoß des geförderten Wohnbaus Walcherstraße, mitten auf dem neu bebauten Nordbahnhofareal, ist alles etwas anders.

"Wir sind mit der Kundenfrequenz sehr zufrieden, und die Leute mögen uns auch", sagt Biljana Krcobic, eine der Angestellten, eine frische Melange in der Hand. "Moment bitte, bin gleich wieder da." An die Tatsache, dass jetzt alles neu ist, hätten sich die Leute rasch gewöhnt, das Stammpublikum von drüben, und die Neuen von hier. Was könne man sich Besseres wünschen? "Das Geschäft läuft gut, aber die Straßen rundherum sind manchmal ziemlich tot und leer. Es könnte ruhig mehr Lokale und Geschäfte geben als das Bissl, was jetzt da ist."

Problem Erdgeschoßzonen

Diese Ansicht teilt auch Dejan Palalic, Geschäftsführer der Crêperie Aero in der Leystraße. "Wir liegen hier leicht ab vom Schuss, und im Gegensatz zu den anderen paar Lokalen im Nordbahnhofviertel haben wir kaum Laufkundschaft", meint Palalic. "Dennoch sind wir abends ganz gut ausgelastet. Der Umsatz ist gut, und wir liegen ziemlich genau in unserem Geschäftsplan."

Zu tun gebe es hier genug, so Palalic. "Ich frage mich daher: Warum gibt es in unserem Viertel nicht mehr Gewerbe und Gastronomie? Auf mich wirkt das alles hier, als hätte man die Erdgeschoßzonen nicht ordentlich durchkonzipiert. Mit verglasten Fahrradabstellräumen und einsehbaren Kinderwagenkammerln, so schön das auch sein mag, kann man kein Leben auf die Straße locken. In diesem Punkt hätte ich mir mehr Planung gewünscht."

Der Wiener Nordbahnhof ist eines der stolzen Aushängeschilder der Wiener Stadtregierung. Nachdem die ÖBB vor einigen Jahren den Frachtenbahnhof Wien Nord aus ihrem Portfolio gestrichen und aufgelöst hatte, wurde das 75 Hektar große Areal frei für eine innerstädtische Nachverdichtung im Bereich Arbeiten und Wohnen.

Ersteres wurde in Form ziemlich großer Büroklötze entlang der Lassallestraße realisiert - ein tristes, völlig misslungenes Kapitel in der Wiener Stadtplanungsgeschichte. Letzteres hingegen, Resultat eines Masterplans von Architekt Günter Lautner aus dem Jahr 2008, ist ein Projekt für viele, viele Jahre.

Hohe Wohnzufriedenheit

Von den geplanten, knapp 10.000 Wohnungen wurden bisher rund 3600 Wohneinheiten fertiggestellt. Zwischen 8000 und 8500 Menschen sind hier Zuhause. Die Wohnzufriedenheit, versichert Christian Kaufmann, Pressesprecher im Ressort von Wohnbaustadtrat Michael Ludwig, sei "exorbitant hoch", die Fluktuation liege weit unter anderen, vergleichbaren Projekten.

Bloß: Wo sind die vielen Menschen? Die Straßen wirken ausgestorben an diesem angenehm warmen Juninachmittag. Kein Wunder. Denn abgesehen von vier Supermärkten (Hofer, Billa, Spar, Eurospar) hält sich das Angebot an Gütern und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs in Grenzen. Eine Trafik, eine Apotheke, ein Friseur, ein Greißler (Salon am Park, voll bobo, Hochachtung) und eine Handvoll Lokale können unmöglich den Wünschen und Sehnsüchten von fast 8500 Einwohnern gerecht werden.

Zu wenig Geschäftslokale

"Meines Erachtens hat man im Nordbahnhofviertel viel zu wenig Geschäftslokale vorgesehen", erklärt der Wiener Stadtsoziologe Jens Dangschat dem Standard und kritisiert die hier tätigen Wohnbauträger, vor allem aber auch die Stadt Wien. "Die paar Restflächen, die hier zur Vermietung stehen, sind viel zu klein und viel zu gering in ihrer Menge." Die Folge: Graffiti, zugeklebte Ladenlokale und Lagerräumlichkeiten in besten Lagen. Was fehlt, sei eine fachliche Diskussion, um über die Bedürfnisse der wachsenden Stadt zu diskutieren.

"Der Bauträgerwettbewerb, der am ehemaligen Nordbahnhof vielfach angewandt wurde, ist ein Modell, das vor 17 Jahren erfunden wurde", erklärt Dangschat. "Damals war das innovativ. Doch nur weil dieses Modell auf einzelnen Parzellen funktioniert, heißt das noch lange nicht, dass man damit auch ganze Stadtviertel bauen kann! Zumindest nicht, ohne gewisse Vorschriften zu adaptieren."

"Aufgezwungene Nachbarschaft"

Anstatt die nötige Infrastruktur zu errichten, die man in so einem Stadtviertel brauche, gebe es nun überall Gemeinschaftsräume, Mietermanagement, aufgezwungene Nachbarschaft - "und alle haben sich ganz furchtbar lieb. Doch wo sie ihre täglichen Besorgungen machen sollen, weiß kein Mensch."

Experten zufolge habe es die Stadt Wien verabsäumt, ihre Rolle als erste und oberste Stadtplanungsinstanz wahrzunehmen, indem sie die Verantwortung für die Inhalte des neuen Stadtviertels den einzelnen Bauträgern überlassen habe. "Man kann ein 75 Hektar großes Stadtquartier nicht ohne eine gewisse Einflussnahme auf die einzelnen Funktionen planen", so Dangschat.

Zu große Wohnblöcke

Kritik kommt auch von Architektenkollegen, die vor allem die viel zu großen Blöcke und viel zu großen Gehdistanzen bemängeln: "Meiner Meinung nach ist das Areal des ehemaligen Nordbahnhofs zu locker und zu großmaßstäblich angelegt", sagt etwa Wolf D. Prix vom Wiener Büro Coop Himmelb(l)au, der hier vor einigen Jahren einen sozialen Wohnbau plante. "Mit derart großen Straßenblocks und Grundstücksparzellen wird niemals ein lebendiges, urbanes Gefühl aufkommen. Die Chance, hier an funktionierende Stadtstrukturen anzuknüpfen, wurde nicht wahrgenommen."

Noch schärfer formuliert es der Wiener Stadtplaner Reinhard Seiß: "Handel und Gastronomie wären in vielen Erdgeschoßzonen am Nordbahnhofareal möglich gewesen. Doch das wurde durch Bauten, die sich durch wahre Burggräben vom Straßenraum abgrenzen, verhindert. Die Vorgartenstraße etwa ist ein Parcours von Negativbeispielen für die Ausformulierung der Sockelzone." Städtebaulich, so Seiß, sei der Nordbahnhof hoffentlich der Schlusspunkt einer langen Ära des monofunktionalen Städtebaus in Wien. (Wojciech Czaja, DER STANDARD, 18.6.2014)