Bariton Matthias Goerne und Pianist und Festwochen-Intendant Markus Hinterhäuser - vor den Arbeiten des Künstlers William Kentridge.

Foto: Festwochen

Wien - Es ruht Schuberts Winterreise-Zyklus, dieses in Miniaturen verborgene düstere Seelenporträt, gemeinhin in der ungestörten Obhut des Musikinterpreten. Im Museumsquartier zeigt jedoch eine Wand - mit Buchseiten und Zetteln verpickt, als gelte es, den Arbeitsraum eines forschenden Künstlers darzustellen -, dass die Deutungshoheit für diesmal eine dreigeteilte ist. Zu jedem der 24 Lieder hat der südafrikanische Künstler William Kentridge einen Animationsfilm ersonnen, und entlang dieser Bildwerke kommunizieren Bariton Matthias Goerne und Pianist Markus Hinterhäuser miteinander.

Eine subjektive Annäherung: Abseits platter Illustration von Text und Melodie hat Kentridge den freien Assoziationsweg beschritten. Er leuchtet die Winterreise aus der Perspektive eines Südafrikaners aus, dessen Jugenderinnerungen auch an diesen Zyklus gebunden sind, an sonntägige Nachmittage, als der väterliche Geschmack die Version von Bariton Dietrich Fischer-Dieskau auf den Plattenteller zu legen pflegte. Konkret wird Kentridge deshalb nicht. Und schon gar nicht geht es um das nostalgische Wiedergewinnen jener familiären Atmosphäre.

Surreale Fragmente

Auch wenn seine Filmideen aus zahlreichen existierenden Arbeiten herübergehievt wurden, auch wenn er in seiner biografischen Bibliothek gestöbert hat: Seine Filme erscheinen gleichsam der Traumarbeit entrissen und als surreale Fragmente, die das Gegenständliche einer unentwegten Wandlung unterziehen. Man sieht einen durch ein Buch wandernden (gezeichneten) Kentridge (etwa bei Der stürmische Morgen), sieht ein tanzendes Pärchen (Rückblick), sieht einen Vogel, der zum Fisch wird. Den ständigen Metamorphosen sind allerdings auch konkrete Dokumente beigelegt: Kriegsszenen des Ersten Weltkriegs brechen herein (Der Wegweiser), auch Totenlisten (Das Wirtshaus). Kentridge thematisiert sowohl die düstere europäische Geschichte wie auch die Kolonialhistorie (bisweilen durch blutende Körper symbolisiert).

Dies alles ist frei von plakativer Aufdringlichkeit. Eher schwebt über allem - als Leitidee - eine Art poetisch-wehmütige Ausformung von Flüchtigkeit und Endlichkeit. Manches dahinschmelzende Gegenständliche und Figurale wirkt (etwa in Täuschung), als wehte durch Kentridges Filmlandschaften ein alle Erlebnisse und Erinnerungen auflösender Wind der Zeit.

Wer sich auf all dies einlässt, hat es nicht sonderlich leicht, zeitgleich die Liedansichten von Matthias Goerne vollständig aufzunehmen. Vielfach ist es sogar unvermeidlich, sich zwischen Bild und Musik zu entscheiden. Goerne, den Pianist und Festwochenintendant Markus Hinterhäuser zumeist mit eleganter Schlichtheit begleitet, ist natürlich dennoch von schwer zu überhörender Imposanz. Er begibt sich auf die Spuren des aufgeladenen Ausdrucks und vermag im Dramatischen Klarheit zu wahren wie auch im Poetischen seine Gabe auszuspielen, mit Legatolinien melancholische Entrückung (Der Leiermann) zu evozieren.

In Summe ein interessantes Experiment als ungewohnter Blick auf ein Monument der Musikgeschichte - in einer auch für die Wahrnehmung anspruchsvollen Form der Genrebegegnung. Diese Form wäre indes durchaus noch zu verfeinern, würde stärker und konzentrierter wirken, würden Sänger und Pianist intensiver mit den überbordenden Filmfantasien Kentridges szenisch verschmelzen. (Ljubiša Tošić, DER STANDARD, 11.6.2014)