35 Jahre - so lange wird das Europaparlament schon durch die Bevölkerung der EU-Mitgliedsstaaten direkt gewählt. Die Bürgerinnen und Bürger geben ihre Stimme den derzeit 751 Mandataren in Straßburg und Brüssel. Doch bei aller Stärke, die diese europäische Institution hat, begleitet die Geschichte der EU eine gehörige Portion Demokratieschwäche.

Demokratische Strukturen wurden von den Staats- und Regierungschefs in den EU-Institutionen nur bedingt gewollt. Für sie standen wirtschaftliche Interessen und das vielzitierte Friedensprojekt nach dem Zweiten Weltkrieg im Vordergrund. Politische Beteiligung an der EU-Gesetzgebung – wie es heute mit dem Mitentscheidungsverfahren üblich ist – musste in den vergangenen Jahrzehnten erst nach und nach mühsam erstritten werden; am stärksten vom Parlament selbst.

Trotz massiver Veränderungen bleibt dem EU-Parlament der Nimbus des zahnlosen Tigers, in das Altpolitiker und Hinterbänkler geschickt werden. Als unnahbar gilt es, als gering die Wahlbeteiligung, als kompliziert das Parteiengefüge, als mangelhaft die europäische Öffentlichkeit.

Sobald es um den Kommissionspräsidenten geht, zeigen die Staats- und Regierungschefs, wer sie zu sein glauben. Selbst wenn Jean-Claude Juncker Kommissionspräsident werden sollte, ist die Botschaft klar: Nicht aufgrund der Wahl der europäischen Bürger wird Juncker gekürt, sondern durch die Gnade des Europäischen Rats. Das Gezerre soll zeigen: Die Macht haben noch immer wir, die Staats- und Regierungschefs.

Zumindest ist das ihr Wunsch. In Wirklichkeit zeigt sich, dass sie im Kampf um Macht und Einfluss, politische Verantwortung und Bedeutung einen immer stärkeren Konkurrenten haben: das EU-Parlament.

Die Staats- und Regierungschefs müssen sich nämlich des schleichenden Einflussverlusts der nationalen Regierungen und Parlamente bewusst sein. Immer mehr Entscheidungen werden in Brüssel und Straßburg gefällt. Wahre Macht haben die Faymanns und Merkels nicht mehr in den Hauptstädten, sondern in den nächtlichen Sitzungen irgendwo in Europa. Und darum geht es auch: die Bedeutung des Rats sicherzustellen, auf dass sich die Kommission nicht wie eine Regierung benehme.

Doch dieses Winden ist ein letztes Aufbäumen. So gering die Rolle der Demokratie in der EU am Beginn des Einigungsprozesses war, das Parlament nährt seine Stärke und sein Selbstbewusstsein genau aus diesem Kampf um mehr Einfluss. Am Ende werden die Staats- und Regierungschefs wohl einen der europaweiten Spitzenkandidaten akzeptieren (müssen). Oder sie verlieren ihr Gesicht, bei Wählern und den EU-Institutionen. Im langen Ringen um die demokratische Legitimierung der EU ist die diesjährige Entscheidung um den künftigen Kommissionspräsidenten ein wichtiger Schritt. Die Staats- und Regierungschefs werden sich am Ende des Prozederes selbst geschwächt haben – der eigentliche Gewinner ist das EU-Parlament. (Sebastian Pumberger, derStandard.at, 8.6.2014)