"Unpräzise Diagnostik und das Fehlen einer Sexualanamnese": Die Ulmer Untersuchung findet wenig Positives in den Akten.

Wien - Zu kurz, zu oberflächlich, zu wenig Sorgfalt in der Methodik. Gutachter beschäftigten sich auch zu kurz und zu wenig eingehend mit den zu begutachtenden Straftätern. Darüber hinaus waren ihre Urteile teilweise vorurteilsbehaftet und pseudowissenschaftlich. So lauten nur einige der Kritikpunkte einer Untersuchung über die Qualität österreichischer Gerichtsgutachter, die dem STANDARD vorliegt.

Die Dissertation aus dem Jahr 2011, eingereicht an der Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Ulm, umfasst eine "Qualitätsanalyse österreichischer Gutachten zur Zurechnungsfähigkeit und Gefährlichkeitsprognose von Sexualstraftätern". Das Ergebnis ist niederschmetternd. Seit drei Jahren weiß man im österreichischen Justizministerium über die Missstände Bescheid - das Ministerium hat die Arbeit der Doktorandin unterstützt und die Gutachten zur Verfügung gestellt.

224 Gutachten wurden geliefert, 211 konnten ausgewertet werden - bei 13 Gutachten fehlten Seiten. 52 Gutachter beschäftigten sich mit insgesamt 179 Probanden, die zum Großteil wegen Vergewaltigung und/oder schweren sexuellen Missbrauchs verurteilt worden waren. Die Doktorandin legte ihren Untersuchungen ein Beurteilungssystem mit 118 Variablen zugrunde und orientierte sich an früheren deutschen Evaluierungsstudien. Aus Österreich gab es, wie sie eingangs bedauernd feststellte, keine vergleichbaren Untersuchungen aus früheren Jahren. Die ausgewerteten Gutachten stammten aus den Jahren 1981 bis 2008 - wobei der überwiegende Teil diesseits der Jahrtausendwende erstellt wurde.

Kleiner Kreis

Neben der Tatsache, dass eine irritierende Anzahl von Gutachten von einem sehr kleinen Expertenkreis erstellt wurde (acht Gutachter erstellten 55,5 Prozent der Untersuchungen, einer hatte gleich 25 erstellt), verwunderte die Forscherin die wenige Zeit, welche die Gutachter auf ihre Nachforschungen aufwendeten. Wenn der zeitliche Aufwand überhaupt angegeben wurde. 35 Prozent hatten weniger als einen Monat gebraucht, rund 30 Prozent zwischen einem und zwei Monaten, keiner länger als maximal vier Monate. Entsprechend selten sprachen die Gutachter auch mit ihren Probanden. Nur in neun Prozent aller Gutachten gab der Sachverständige an, wie viel Zeit er für die Untersuchung des Patienten verwendete. In sechs Fällen betrug die Untersuchungsdauer weniger als zwei Stunden, in zwölf Gutachten war von zwei bis vier Stunden die Rede.

Die Forscherin urteilt über die Gutachterarbeit: "Hinsichtlich formaler Aspekte wiesen die Gutachten eine große Variationsbreite und viele Mängel auf, z. B. keine Angabe der Begutachtungsdauer, keine Aufklärung des Probanden, unausgewogene Aktenreferate, eine unpräzise Diagnostik und das Fehlen einer Sexualanamnese, obwohl es sich bei der untersuchten Probandenstichprobe ausschließlich um Sexualstraftäter handelte." Tatsächlich fand sich in 58,8 Prozent aller Gutachten keine Sexualanamnese.

Auch die inhaltliche Qualitätsanalyse erbrachte kein Ruhmesblatt: So wurde etwa bei jedem fünften Gutachten bekrittelt, es fänden sich "Zirkelschlüsse" des Sachverständigen. Zum Beispiel wurde die Tatsache, dass es einschlägige Vordelikte gab, mit der Diagnose "Persönlichkeitsstörung" belegt - was wiederum als "Beweis" für das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung angeführt wurde. Die häufigste Diagnose war denn auch die "kombinierte Persönlichkeitsstörung". Die Wissenschafterin spricht hier klar von einer "Verlegenheitsdiagnose".

In fast der Hälfte aller Gutachten (45,5 Prozent) fänden sich "Moralisierungen", schreibt die Wissenschafterin, viele Gutachten seien sprachlich unpräzis. Zudem verhalte sich der Gutachter in zwei Dritteln aller Gutachten "strafrechtsnormativ". Das bedeutet, er "argumentiert juristisch. Mit Spürsinn versucht er, dem Probanden Indizien zum Verfahren zu entlocken oder nachzuweisen. Er übernimmt die Aufgabe des Kriminalbeamten oder Untersuchungsrichters."

Problem "Hausgutachter"

Langjährige Berufserfahrung eines Gutachters wirkte sich nicht immer positiv auf seine Arbeit aus: Im Gegenteil wurden Gutachten von erfahrenen und/oder häufig beauftragten Sachverständiger in einigen Punkten signifikant schlechter beurteilt als Gutachten selten beauftragter Sachverständiger. Es sei zu hinterfragen, ob es sich hierbei um ein "Phänomen sogenannter Hausgutachter" handle, steht in der Doktorarbeit.

Nicht allein diese Untersuchung stellt übrigens der Arbeit österreichischer Gerichtsgutachter kein gutes Zeugnis aus. Eine kürzlich präsentierte Untersuchung einer Forschungsgruppe der Med-Uni Wien hat den Umgang des österreichischen Justizsystems mit straffällig gewordenen Suchtkranken untersucht und empfiehlt dringend "Qualitätssicherung bei den Fachgutachten zur Beurteilung der Schwere der psychiatrischen Suchterkrankung". Denn: Werde die psychiatrische Grunderkrankung nicht behandelt, könne auch die Suchterkrankung nicht stabilisiert werden, schreibt die Forschungsgruppe unter der Leitung der Psychiaterin und Suchtexpertin Gabriele Fischer. Dies führe in der Folge dazu, dass Suchtkranke "nicht aus dem Kreis der Drogenkriminalität ausbrechen" könnten.

Die Mediziner argumentieren auch mit Kosten: Während die ambulante medizinische Behandlung von Opioidabhängigkeit rund 4000 Euro pro Patient und Jahr betrage, koste ein suchtkranker Häftling die Justizanstalten im Jahr 34.500 Euro. (Petra Stuiber, DER STANDARD, 7.6.2014)