Göttingen - Das Innere unseres Körpers ist buchstäblich eine haarige Angelegenheit: Mithilfe winziger Flimmerhärchen befreien Zellen unserer Atemwege von Staub, Schleim und Krankheitserregern oder bewegen sich Eizellen und Spermien vorwärts. Sind diese Härchen in ihrem Aufbau oder ihrer Funktion gestört, können Atemwegserkrankungen oder Unfruchtbarkeit die Folge sein.
Forscher am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen haben mit Kollegen der University of California in Berkeley und der Universität Göttingen nun entschlüsselt, wie die Verankerung der Flimmerhärchen an der Zelloberfläche gesteuert wird. Ihre aktuell in "Nature" veröffentlichten Ergebnisse tragen dazu bei, die Ursachen von Atemwegserkrankungen besser zu verstehen.
Entscheidende microRNAs
Die einzelnen, nur Bruchteile von Millimetern kleinen Flimmerhärchen wirken wenig effektiv. Doch wenn Hunderte von ihnen im Gleichklang peitschenartig schlagen, erzeugen sie eine kräftige Strömung, die unsere Atemwege reinigt und die Lunge schützt. Eizellen aus dem Eierstock erreichen dank ihrer Hilfe die Gebärmutter. Nicht zuletzt geben Flimmerhärchen während der frühen Entwicklung des Embryos im Mutterleib die Richtung vor: Indem sie bestimmte Botenstoffe verteilen, sorgen die Härchen dafür, dass sich die Organe an der richtigen Stelle ausbilden. Ist dieser Prozess gestört, kann ein Situs inversus die Folge sein: Alle Organe liegen spiegelverkehrt im Körper.
Um nicht von der eigenen Kraft mitgerissen zu werden, benötigen die agilen Flimmerhärchen allerdings eine gute Verankerung. Diese Aufgabe übernimmt der sogenannte Basalkörper. Diese Struktur besteht aus verschiedenen Proteinen und verbindet das Flimmerhärchen an seinem Fuß fest mit der Zelloberfläche. Das Forscherteam hat jetzt entdeckt, dass bei der Verankerung und Ausbildung der winzigen Härchen sechs kleine Nukleinsäure-Moleküle – sogenannte microRNAs – eine Schlüsselrolle spielen: Je zur Hälfte stammen sie aus den Genfamilien miR-34 und miR-449.
Atemwegserkrankungen bei Mäusen
In den "behaarten" Zellen der Luftröhre und Lunge sind diese sechs microRNAs besonders aktiv. Zigarettenrauch beispielsweise reduziert ihre Menge maßgeblich und könnte eine der Ursachen für die bekannten Schädigungen der Atemwege bei Kettenrauchern sein. Um die Rolle der beiden Genfamilien in Zellen der Atemwege genauer untersuchen zu können, schalteten die Forscher alle sechs microRNAs in Mäusen aus. "Als Folge entwickelten die Nager Symptome, die auch Menschen mit einer seltenen Atemwegserkrankung namens Primäre Ziliäre Dyskinesie zeigen", sagt Michael Kessel, Leiter der Forschungsgruppe Entwicklungsbiologie am MPI für biophysikalische Chemie.
Menschen, die an dieser Krankheit leiden, haben zu wenige oder verkürzte Flimmerhärchen. Als Folge leiden sie unter immer wiederkehrenden Atemwegserkrankungen und häufig auch unter Unfruchtbarkeit. Bei rund der Hälfte der Patienten sind zudem die Organe seitenverkehrt angelegt. "Ein ganz ähnliches Krankheitsbild sehen wir bei Mäusen, denen alle sechs microRNAs fehlen. Auch diese Nager erkranken an den Atemwegen und sind zusätzlich unfruchtbar. Einen Situs inversus entwickeln sie dagegen nicht", so Kessel.
Protein blockiert
Auch bei diesen Tieren waren die Flimmerhärchen auffällig verändert: Sie waren zu kurz, in ihrer Anzahl stark reduziert oder fehlten ganz. Offensichtlich haben die microRNAs also eine wichtige Aufgabe bei der Ausbildung der Härchen. "Wie wir in unseren Experimenten zeigen konnten, schalten die microRNAs ein wichtiges Schalterprotein namens Cp110 aus. Ist Cp110 aktiv, blockiert es die Bildung der Flimmerhärchen und sorgt während der Embryonalentwicklung dafür, dass die Härchen erst genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort entstehen. Schalten die microRNAs das CP110 nicht rechtzeitigt aus, stoppt Cp110 das Härchenwachstum zu lange – mit fatalen Folgen. Die Basalkörper wandern nicht richtig und die Härchenbildung ist deutlich geschädigt", schildert Alexander Klimke, Mitautor der Studie.
"Unsere Vermutung war, dass die microRNAs gewissermaßen den Startschuss für die Flimmerhärchen-Bildung geben, indem sie das Cp110 abschalten", ergänzt Kessel. Um diese Annahme zu überprüfen, machten die Forscher ein Kontrollexperiment: Sie schalteten nicht nur die sechs microRNAs, sondern auch den Cp110-Schalter ab. "Wie wir erwartet hatten, fanden wir weitgehend funktionierende Flimmerhärchen. Die Basalkörper bildeten sich normal aus und positionierten sich richtig. Auch die Härchen waren unauffällig."
Die sechs microRNAs werden also benötigt, um Cp110 zur rechten Zeit zu stoppen, damit sich die Flimmerhärchen entwickeln können. Da diese microRNAs in allen Wirbeltieren vorkommen, hoffen die Forscher, dass der neu entdeckte Regulationsmechanismus wichtige Einblicke in die Ursachen von Atemwegserkrankungen geben kann. (red, derStandard.at, 9.6.2014)