"Bolzen-Georg": Das Skelett eines mit einem Bolzen ermordeten Mannes liegt heute im Grazer Archäologiemuseum: Wissenschafter analysierten, wie sich die Tat an diesem etwa 50-jährigen Mann zugetragen haben könnte.

Foto: Universalmuseum Joanneum

Graz - Es war einer jener Fälle, die selbst geeichten Gerichtsmedizinern unter die Haut gehen: Das Kind war noch kein halbes Jahr alt, als es mit Kopfverletzungen ins Krankenhaus gebracht wurde. Dort stellte man insgesamt 38 Knochenbrüche am gesamten Körper fest. Um mehr über diese Verletzungen und vor allem über die Zeitpunkte ihrer Entstehung herauszufinden, hat die Staatsanwaltschaft das Ludwig-Boltzmann-Institut für Klinisch-Forensische Bildgebung in Graz mit einem Gutachten beauftragt. "Durch die detaillierte Analyse der Röntgenbilder und die genaue Datierung der einzelnen Verletzungen konnten wir dazu beitragen, die Eltern - die jede Schuld von sich wiesen - als Täter zu überführen", berichtet die Institutsleiterin Eva Scheurer.

Das Institut ist im permanenten Kontakt mit einer brutalen Realität. So wurde dieser Fall von Kindesmisshandlung zum Anlass für eine Reihe von Studien, durch welche die Datierung von Knochenbrüchen mittels Magnetresonanztomografie (MRT) noch genauer werden soll. "Gerade bei Kindesmisshandlungen - die einen großen Teil unserer Fälle ausmachen - hilft dieses Verfahren sehr bei der Aufklärung", erläutert Eva Scheurer. "Im Gegensatz zur Computertomografie (CT) funktioniert sie strahlungsfrei und ermöglicht uns zudem, den ganzen Körper des Kindes in einem einzigen Durchgang zu untersuchen".

An der "Klinisch-Forensischen Untersuchungsstelle", die gemeinsam mit der Medizin-Uni Graz vor sechs Jahren eingerichtet wurde, widmet sich das aus (Gerichts-)Medizinern, Radiologen, Juristen und Informatikern bestehende 20-köpfige Team des Instituts nicht nur lebenden Gewaltopfern. Auch viele Tote geben hier ihre letzte Geschichte preis, und zwar in einer komplexen, verschlüsselten Sprache, auf deren Interpretation sich die interdisziplinäre Expertengruppe spezialisiert hat. Wo immer in der Rechtsprechung die genauen Abläufe eines möglicherweise gewaltsamen Todes eine Rolle spielen - etwa bei Verkehrsunfällen oder Tötungsdelikten - ist das Know-how des Teams gefragt.

So auch im Fall einer Messerstecherei auf dem Grazer Griesplatz, bei der vor einigen Monaten ein Mann erstochen wurde. Anhand der Verletzungen konnte das Team die Ereignisse unmittelbar vor dem Tod des Mannes schlüssig rekonstruieren, was für die Klärung der Schuldfrage essenziell sein dürfte.

Dreidimensionales Modell

Damit auch medizinische Laien eine klare Vorstellung von den Verletzungen bekommen, haben die forensischen Bildanalytiker eine spezielle Software entwickelt. Mit ihr können an einem dreidimensionalen Menschenmodell alle vorhandenen Daten in einem einzigen Bild dargestellt werden. "CT-Daten und Fotos von Verletzungen können wir so an den richtigen Körperstellen des Modells einfügen", erklärt Scheurer. Für Nichtmediziner werden damit die oft sehr komplexen Verletzungszusammenhänge erkennbar, was die Urteilsfindung erleichtert und objektiviert.

Bei einem kürzlich aufgerollten Cold Case der besonderen Art spielen juristische Überlegungen keine Rolle mehr: Denn der Mord, um den es hier geht, ereignete sich vor etwa 700 Jahren. Die Überreste des männlichen Opfers wurden gemeinsam mit jenen von 17 anderen Menschen 2010 bei Grabungen im Bereich der Grazer Burg entdeckt. Während diese, wie anthropologische Untersuchungen nahelegen, im Zuge einer Epidemie verstarben, erzählen die Gebeine des 18. Toten von einem grausigen Gewaltverbrechen. In seinem Schädel steckt nämlich ein Metallstift unter dem rechten Auge, der fast waagrecht in den Kopf eingedrungen war. Zusätzlich hatte er auch noch ein Loch im Stirnbein.

Um mehr über diesen Toten und die Umstände seines Sterbens zu erfahren, haben der Chefkurator Marko Mele vom Grazer Archäologiemuseum und sein Team sämtliche Möglichkeiten der Spurensicherung genutzt: von anthropologischen, geologischen, botanischen, chemischen und zoologischen Analysemethoden bis hin zur klinisch-forensischen Bildgebung.

Als die Knochen vor einigen Monaten ans Ludwig-Boltzmann- Institut geliefert worden waren, musste das Skelett erst zusammengesetzt werden. Nachdem die über 200 losen Knochen und Knöchelchen an der jeweils korrekten Stelle positioniert waren, machten die Forscher eine CT, interpretierten die Daten und stellten sie mit ihrer neuen Software am dreidimensionalen Modell dar.

Erst über die 3-D-Aufnahme konnten sie ermitteln, was durch den Metallstift überhaupt verletzt worden war, was die einzelnen Verletzungen bewirkt hatten und wie sich die Tat abgespielt haben könnte. Was also ist dem etwa 50-jährigen Mann zugestoßen? "Aufgrund der forensischen und anthropologischen Analysen kommen eigentlich nur zwei Todesursachen infrage", fasst Eva Scheurer die Ergebnisse der Untersuchungen zusammen: "Entweder eine letale Hirnblutung aufgrund des Lochs im Stirnbereich oder eine schwere Infektion durch den im Gesichtsschädel steckenden Bolzen".

Wahrscheinlicher Tathergang

Und was sagen die Verletzungen über die letzten Lebensminuten des Opfers aus? Das wahrscheinlichste Szenario schildert Scheurer: "Zwei Männer stehen sich im Zweikampf gegenüber. Einer sticht mit einer gabelartigen Waffe waagrecht auf das Gesicht seines Gegners ein. Als die Spitze abbricht und in dessen Kopf stecken bleibt, krümmt sich der Schwerverletzte nach vorn. Der Angreifer nutzt die Gelegenheit und sticht mit derselben Waffe noch einmal zu, wobei er das Loch in der Stirn verursacht".

Natürlich kein schöner Tod - aber den findet man auch in den Kriegen der folgenden Jahrhunderte kaum. Wer den "Bolzen-Georg" sehen und mehr über die neuesten klinisch-forensischen Methoden erfahren möchte, kann das im Rahmen der Sonderausstellung Knochen-Code. Körper erzählen vom Krieg noch bis Ende Oktober diese Jahres im neuen Grazer Archäologiemuseum tun. (Doris Griesser, DER STANDARD, 4.6.2014)