Kritiklos hinnehmen wollen wir gar nichts mehr. Kritik ist zur Pflichtbetätigung einer aufgeklärten Allgemeinheit geworden. Nur wer sich kritisch äußert, bewahrt die Chance auf Veränderung. Zumindest stärkt man Positionen. Verschafft sich Distinktionsgewinn. Gewinnt Follower. Kritik stärkt das Selbst. Ohne kritische Ansicht gerät man in Verdacht.

"Eine unkritische Haltung ist wie Mundgeruch: Sie kommt nur bei den anderen vor." So fasst es Thomas Edlinger in seiner Reihe "Der wunde Punkt" im dieswöchigen Ö1-Radiokolleg (noch heute, Donnerstag, 9.05 Uhr und auf oe1.orf.at) treffend zusammen. Im Mittelpunkt seines hörenswerten Features steht allerdings eine leicht ketzerische Frage: Was kann Kritik in einer demokratisch ausdifferenzierten Gesellschaft eigentlich noch bewirken? Wo findet sie ihre nachhaltigen Perspektiven? Ist sie nicht nur institutionalisierte Routine, mit der man die eigene Aufgeschlossenheit demonstriert?

Gewiss, nicht eben einfach zu pflügende Themenfelder. Doch die Krise der Kritik ist gut benannt, und sie tritt umso deutlicher zutage, wo es auch den von Edlinger Befragten (von Armin Thurnher über Eva Menasse bis zur Philosophin Rahel Jaeggi) schwerfällt, klare Linien zu ziehen. Zu schwammige Begriffe wie Kapitalismuskritik, zu emotional gelenkte Erregungskurven in (sozialen) Medien, zu viele Scharmützel auf Nebenschauplätzen?

Die Verfeinerung der Kritik, heißt es einmal, führt mittlerweile zu einem Reflex, der die Kritik als überzogen geißelt. Eine Dynamik, die zu immer stärkerer Polarisierung veranlasst. Vielleicht sollte sich Kritik wieder stärker von Anliegen befreien: als Fluchtlinie, die ins Unbekannte führt. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 5.6.2014)