Frage: Man liest immer wieder von der steigenden Ungleichheit. Aber was heißt das genau?
Antwort: In reichen Ländern konnten vor allem die oberen zehn Prozent ihre Einkommen stark steigern. Das betrifft auch traditionell egalitäre Länder wie Finnland oder Schweden. In Finnland zum Beispiel ist der Anteil der oberen zehn Prozent am Einkommen in den letzten 20 Jahren von unter 23 Prozent auf 28 Prozent gestiegen. In Österreich liegt der Anteil an den Lohneinkommen bei etwa 30 Prozent, der Anstieg fiel geringer aus, der Trend ist aber derselbe. Auch ein Blick auf andere Indikatoren zeigt, dass die Ungleichheit in vielen Ländern zuletzt gestiegen ist. Am deutlichsten ist der Trend aber bei Top-Einkommen.
Frage: Wo ist der Anstieg am stärksten?
Antwort: Der Titel des Ungleichheits-Kaisers geht unter den reichen Ländern an die USA. Dort konzentrieren sich die Einkommen vor allem ganz oben. Vom Einkommenswachstum zwischen 1976 und 2007 ist fast die Hälfte an das jeweils oberste Prozent gegangen. Der Anteil der obersten 0,01 Prozent hat sich sogar versechsfacht.
Frage: Wie schaut es mit der Ungleichheit in ärmeren Ländern aus?
Antwort: Lateinamerika ist der Kontinent mit der größten Ungleichheit. In den letzten Jahren ist sie aber in einigen Ländern gesunken, etwa in Brasilien und Chile. Sie ist dort aber freilich noch immer sehr hoch. Afrika kommt, was die Ungleichheit betrifft, gleich nach Lateinamerika, vor allem in Südafrika nimmt sie weiter zu, im Norden des Landes ist sie niedriger. In China ist die Ungleichheit in den vergangenen 20 Jahren stark gestiegen. Während viele Städter vom Wirtschaftsboom profitieren, ist die Armut in großen Gebieten des Landes noch immer sehr groß. Gleichzeitig nimmt die globale Ungleichheit, also der Spalt zwischen armen und reichen Ländern, aber ab.
Frage: Warum steigt die Ungleichheit in den reichen Ländern?
Antwort: Zum einen sorgt die Globalisierung dafür, dass die Bildungselite rund um den Globus arbeiten und studieren kann, während weniger gut ausgebildete Menschen unter der Konkurrenz aus Schwellenländern leiden. Viel wichtiger ist aber der wirtschaftliche Strukturwandel, der die Nachfrage nach Hochqualifizierten steigen lässt und damit auch ihre Entlohnung. Dass der Finanzsektor an Bedeutung gewinnt, fördert darüber hinaus die Konzentration der Einkommen. Am anderen Ende sorgen prekäre Jobs dafür, dass die Einkommen wenig bis nicht wachsen.
Frage: Gibt es noch andere Gründe?
Antwort: Ja, auch der Staat spielt eine große Rolle. Schaut man auf den Gini-Index, ein Maß zur Messung der Ungleichheit, dann zeigt sich: Hätte Österreich ein Steuersystem wie die USA und würde sein Sozialsystem ähnlich gestalten, wäre die Ungleichheit fast so groß wie dort. Ein aktueller Bericht der OECD zeigt, dass die reichen Länder in den letzten Jahren weniger umverteilen. Dass die Steuersätze für die höchsten Einkommen in den letzten Jahrzehnten stark gefallen sind, erhöht außerdem den Anreiz für Top-Verdiener, über höhere Einkommen zu verhandeln.
Frage: Wie ist das bei den Vermögen?
Antwort: Die Datenlage ist knapp, für einige Länder gibt es aber recht zuverlässige Daten. In den USA ist der Anteil der oberen 0,01 Prozent am Vermögen seit 1980 von drei Prozent auf elf Prozent gestiegen. Auch in Frankreich, Schweden und Großbritannien ist die Konzentration gestiegen, zeigen Daten von Thomas Piketty.
Frage: Welche Konsequenzen hat das?
Antwort: Ökonomen wie Piketty selbst oder Nobelpreisträger Paul Krugman warnen vor einer Art "Erb-Kapitalismus". Damit meinen sie ein Wirtschaftssystem, in dem Erbschaften eine größere Rolle spielen als erarbeitetes Einkommen. Daten von Piketty zeigen etwa, dass die jährlichen Erbschaften in Frankreich mittlerweile wieder 15 Prozent des Einkommens ausmachen. Der Franzose erwartet einen weiteren Anstieg.
Frage: Hat Piketty nicht mit falschen Zahlen gerechnet?
Antwort: Ein Journalist sorgte für Aufsehen, als er Fehler im Buch entdeckt haben wollte. Piketty nahm aber ausführlich Stellung und zeigte, dass der Journalist in seiner Kritik selbst Fehler machte. Wirklich umstritten sind unter Ökonomen nicht die Zahlen von Piketty, sondern etwa die Art und Weise, wie er Kapital misst und die Annahmen, die er für die Entwicklung im 21. Jahrhundert trifft.
Frage: Wieso ist Einkommensungleichheit ein Problem?
Antwort: Die OECD warnt vor den sozialen Folgen hoher Ungleichheit und hat deshalb eine 200 Seiten lange Anleitung für Regierungen geschrieben, um alle Schichten am Wachstum zu beteiligen. Vor kurzem sorgte eine Studie des Internationalen Währungsfonds (IWF) für Aufregung. Die traditionell konservative Organisation hob darin hervor, dass Umverteilung wichtig für höheres und stabileres Wirtschaftswachstum sei, sofern sie nicht zu extrem ist.
Frage: Was kann man also konkret machen?
Antwort: Einerseits kann ein progressiveres Steuersystem dafür sorgen, die Ungleichheit zu senken. Joseph Stiglitz von der Columbia University fordert eine Koordinierung, was die Steuersätze betrifft. Wenn jeder überall arbeiten könne, sei das eine Einladung für Steuerwettbewerb nach unten. Die OECD hebt die Bedeutung von gleichem Zugang zu Bildung und Gesundheitsleistungen hervor. Michael Förster, OECD-Analyst, rechnet auch der Reaktion auf die Krise eine Rolle zu: Derzeit spare man vor allem bei Sozialleistungen für Personen im Erwerbsalter. Die Entscheidung, wo und wie man spare, habe Auswirkungen auf die Ungleichheit. (Andreas Sator, DER STANDARD, 5.6.2014)