Seit dem 5. Juni 2013 ist unsere Sicht auf die Welt eine andere. Der damals 29-jährige US-Amerikaner Edward Snowden hat an diesem Tag erstmals Einblicke gegeben, wie westliche Geheimdienste das Internet ausspähen. Dabei wurde das Ausmaß einer Massenüberwachung deutlich, das bei weitem alles übertrifft, was Spitzelorganisationen normalerweise tun.

Dieser Tag stellt eine Zäsur dar, weil grundlegende Gewissheiten, Garantien und Sicherheiten erschüttert wurden - wie dies auch durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 der Fall war. Seit Snowdens Enthüllungen ist die Welt eine andere: Wir wissen, dass jeder und jede potenziell verdächtig ist. Staatliche Behörden sammeln systematisch Daten und werten diese ohne unser Wissen aus.

In der Post-Snowden-Welt gilt auch der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit nicht mehr, auch Grundrechte werden nicht mehr geachtet. Wenn auf Computer- oder Telefondaten zugegriffen wird, muss gar kein Anfangsverdacht einer Straftat vorhanden sein, wie dies in einem Rechtsstaat üblich ist. Die Annahme, dass es so etwas wie eine Privatsphäre oder Schutz im Netz gibt, hat sich verflüchtigt. Passwörter haben Placebowirkung, bieten aber keinen Schutz mehr.

Auch der Staat kann seine Bürger nicht vor Angriffen durch Institutionen anderer Staaten schützen. Nicht einmal die deutsche Kanzlerin Angela Merkel war vor Attacken des US-Geheimdienstes gefeit, der ihr Handy angezapft hatte. Der deutsche Internetaktivist Sascha Lobo spricht von einem "digitalen Staatsversagen".

Längst werden nicht nur zentrale Schaltstellen angezapft, sondern die Geheimdienste haben sich in Produkte eingenistet, mit denen jeder Bürger überall auf der Welt vollständig kontrolliert werden kann: E-Mail-Programme und Webcams können als Spähprogramme missbraucht, Telefonate abgehört werden.

Es wird nicht nur das Internet überwacht, sondern die ganze Welt mithilfe des Internets. Es ist ein Schattennetzwerk, von dem wir inzwischen wissen - eine zweite Welt. Aber sehr viel Licht ist in dieses Dunkel der Geheimdienstaktivitäten seit den Enthüllungen des einstigen Geheimdienstmitarbeiters Snowden vor einem Jahr nicht gedrungen. Die Geheimdienste weigern sich weiterhin, ihre Informationen preiszugeben. In den USA hat Präsident Barack Obama nach öffentlichen Diskussionen ein paar kosmetische Korrekturen angeordnet - wie die Speicherung der Daten bei Telekommunikationsunternehmen statt bei Geheimdiensten. Aber das Überwachungsprinzip besteht weiter. Auch europäische Geheimdienste arbeiten wie bisher.

Ermittlungsverfahren zur NSA-Affäre in Deutschland wie auch in Österreich wurden (mit Ausnahme der Handyaffäre um Merkel) eingestellt. Dabei besteht gerade in Österreich der Verdacht, dass noch nicht einmal alles bekannt ist: In einem vor kurzem veröffentlichten Standard-Interview sagte der Journalist Glenn Greenwald, der als Einziger Zugriff auf Snowdens Dokumente hat, es gebe nicht nur eine gelegentliche, sondern ständige Kooperation zwischen Österreich und der NSA.

Nach fast einem Jahr scheint sich zu bestätigen, was Edward Snowden damals als "größte Sorge" bezeichnet hat: "dass sich nichts ändert nach meinen Enthüllungen." Auf institutioneller Ebene nicht, aber auf individueller: Unser Verhalten im Netz hat er verändert, wir sind vorsichtiger geworden. (Alexandra Föderl-Schmid, DER STANDARD, 5.6.2014)