Wer ich einmal war: Ellar Coltrane spielt in Richard Linklaters "Boyhood" die Hauptrolle des Buben Mason - im Film kann man ihn vom Sechsjährigen bis zum Jugendlichen von 18 Jahren aufwachsen sehen.

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Wien - Woran erkennen wir, dass die Zeit vergangen ist? Einerseits an subjektiven Äußerlichkeiten. Einfach mal so gekämmte Haare, die zu modischen Frisuren werden. Kindliche Proportionen eines Körpers, der sich plötzlich in die Länge zieht. Neue, ungewöhnliche Verhaltensweisen, die eben dem Umgang des jeweiligen Alters Rechnung tragen.

Natürlich ändern sich noch viel grundsätzlichere, verborgenere Dinge, hervorgerufen durch ein Chaos aus Eindrücken und Erfahrungen, das uns formt. Kein Film, zumindest kein fiktionaler, konnte davon bisher adäquat erzählen. An die Möglichkeiten der Wirklichkeit kam man stets nur graduell heran.

Boyhood, der jüngste Film von Richard Linklater, betritt nun neues Terrain. Denn der Zeitraum einer Kindheit, den der US-Filmemacher hier ausbreitet, ist wirklichkeitstrunkener als alle Versuche, die es davor gegeben hat. Der Darsteller Ellar Coltrane, der den zu Beginn sechsjährigen, am Ende 18-jährigen Mason verkörpert, sowie dessen familiäres Umfeld (darunter Patricia Arquette und Ethan Hawke als Eltern), sie alle altern tatsächlich. Linklater hat jedes Jahr mit seinen Darstellern ein paar Tage gedreht, zwölf Jahre insgesamt. Was das Kino immer vermocht hat, nämlich Zeit in (Lebens-)Erfahrung zu übersetzen, wird in Boyhood auf besonders magische Weise anschaulich: Der Film lässt uns an jener Phase eines Menschenlebens teilhaben, in der sich besonders viel entscheidet; in der sich jemand erst zu einem Individuum entwickelt.

Wer mit Linklaters Arbeit vertraut ist, weiß um die Affinität des Texaners zu Jugend- und Popkultur (Slacker, Dazed and Confused), aber auch von seiner Faszination für Erzählweisen, die gängige Zeitformate hinter sich lassen: Mit seinen bisher drei "Before"-Filmen, welche die Verwicklungen des Paares Celine (Julie Delpy) und Jesse (Ethan Hawke) in Zehnjahressprüngen verfolgen, hat er bereits ein mit Boyhood vergleichbares Konzept realisiert. Auch in dieser an Truffauts Antoine-Doinel-Filmen angelehnten (erweiterbaren) Trilogie geht es nicht nur um die Figuren, sondern um mehr: ein Generationenbild.

Boyhood wirkt in vielerlei Hinsicht wie eine Synthese früherer Ansätze Linklaters, in seiner Verdichtung von Lebensmomenten und -intensitäten holt der Film allerdings zu einem größeren Panorama aus. Dabei zeichnet er sich durch jene stilistische Zurückhaltung aus - und jene Neigung zur Alltäglichkeit in der Durchdringung der Milieus -, die diesen so feinfühligen Erzähler amerikanischer Lebenswelten mitunter von großspuriger auftretenden Kollegen überstrahlt sein ließ.

Rollen anders auslegen

Die Lebensrealität des Buben und späteren Teenagers ist mit jener vieler seiner Altersgenossen vergleichbar. Masons Eltern haben sich bereits getrennt, als der Film einsetzt; mit seiner Schwester Samantha (Linklaters Tochter Lorelei) wächst er in Obhut seiner Mutter auf. Ethan Hawke gibt den durchs Dasein schlingernden Vater, der seine Rolle gern etwas anders auslegen will, mit seinen Wochenendbesuchen aber die geordneten Abläufe oft durcheinanderbringt.

Plot im Sinne einer zielgerichteten Erzählung ist in Boyhood nicht vorhanden. Es sind die manchmal wirren, manchmal ganz alterstypischen Ereignisse, die das Dasein der Familie bestimmen. Zweimal geht die Mutter neue Partnerschaften ein - das Gefüge wird dabei zum Patchwork -, in beiden Fällen erweist sich die Alkoholsucht der Männer als schwere Bürde. Trotz der Länge von zwei Stunden und 40 Minuten streift Linklater manche innerfamiliäre Entwicklung nur. Die Lücken fallen jedoch nicht weiter ins Gewicht. Vielmehr hat es den Anschein, als würden ein paar Seiten eines Familienalbums fehlen. Die teilweise hart gesetzten Schnitte bringen Entwicklungen nur noch stärker hervor.

Besonders eindrücklich verwirklicht sich das Prinzip von Boyhood freilich an Mason selbst, der vom maulfaulen Buben zu einem offenen, debattierfreudigen Jugendlichen heranwächst, der erst nach einiger Bedenk- und Beobachtungszeit auf Herausforderungen reagiert. Die Universalität der Populärkultur - Harry-Potter-Premieren, Musiknummern von Coldplay, Weezer oder Daft Punk und die erste Obama-Wahl - schaffen zeithistorische Verbindungen: einen kollektiven Horizont.

Als Film über die Zeit ist Boyhood vor allem auch einer über Übergänge. Dass ihn Linklater auf 35-mm-Film gedreht hat, fügt sich dabei besonders treffend. Das fotochemische Bild hatte noch Anteil an der vorfilmischen Wirklichkeit. Die große Resonanz dieses wunderschönen Films liegt in seiner Mischung aus Gelassenheit und Poesie, mit der er uns Anteil daran haben lässt, dass jede Kindheit irgendwann vorüber ist. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 5.6.2014)