Das Phänomen der kalten Progression existiert, seit es progressive Steuern gibt. Das ist die schleichende Steuererhöhung, die entsteht, wenn Bürger durch Inflationsabgeltung in höhere Steuerklassen rutschen, ohne dass ihre Kaufkraft steigt. Und von jeher gibt es ein Mittel dagegen: Man muss nur die Einkommensstufen im Steuersystem an die Inflation anpassen.

Warum ist das bisher nicht geschehen? In den 1970er-Jahren lautete das Argument, jede Indexierung sei inflationstreibend und müsse deshalb vermieden werden. Angesichts der heutigen Preisstabilität ist diese Begründung obsolet geworden.

Heute heißt es, dass kein Finanzminister freiwillig auf ein Körberlgeld verzichten will, das ihm erlaubt, alle paar Jahre die Gelder durch eine großzügige Steuerreform zurückzugeben - möglichst knapp vor Wahlen. Doch auch diese These hält nicht: Es ist lange her, dass eine Steuerreform einer Partei in Österreich zu einem Wahlsieg verholfen hat.

Im Gegenteil: Die kalte Progression verstärkt bei Wählern das Gefühl des Geschröpftwerdens und damit die Politikverdrossenheit, gerade weil sie nicht auf transparenten politischen Beschlüssen basiert. Auch Steuerreformen hinterlassen einen schalen Nachgeschmack, weil sie dem Einzelnen meist weniger bringen als erhofft.

Gerade für Koalitionsregierungen erweisen sich die Debatten rund um Abgabensenkungen als politisches Gift. Auch wenn die Parteien nicht streiten wollen, müssen sie gerade in Steuerfragen ihre jeweilige Klientel bedienen - und streiten deshalb umso heftiger. Mehrere Regierungen sind daran bereits zerbrochen. Das ist reine Wählervertreibung.

Deshalb wäre es im Interesse von SPÖ und ÖVP, wenn sie nicht nur möglichst rasch die kalte Progression der letzten Jahre ausgleichen, sondern gleich auch das umsetzen, was der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble bereits angedacht hat: durch eine jährliche Anpassung der Einkommensschwellen an die Inflation die schleichende Steuererhöhung endgültig zu verbannen. Eine solche Reform wäre gut für Kleinverdiener, die wichtigste Zielgruppe der SPÖ, aber auch leistungsfördernd, weil von Lohnerhöhungen mehr übrigbleibt. Das ist ganz im Sinne der ÖVP.

Ein solcher Automatismus wäre auch die beste Ausgabenbremse. Noch vor einigen Jahren hätte ein Verzicht des Fiskus auf die kalte Progression in eine höhere Neuverschuldung münden können. Doch dieser Weg ist durch den EU-Fiskalpakt versperrt. Denn Österreich muss in Zukunft sein strukturelles, also das vom Wachstum unabhängige, Defizit nahe bei null halten, kann also konjunkturbedingte Zusatzeinnahmen nicht mehr ausgeben.

Regierung und Parlament müssten sich einmal auf eine bestimmte Abgabenquote einigen, die im Gleichgewicht mit den Ausgaben stehen muss, und könnten dann aufhören, ständig an verschiedenen Steuer- und Budgetschrauben herumzudrehen.

Debatten über Vermögenssteuern, Verteilungsgerechtigkeit oder Pensionsreformen wird es trotzdem geben. Aber die Regierung könnte sich den Zeitpunkt dafür aussuchen und müsste nicht kurz nach den Wahlen verzweifelt Wege suchen, die angeschwollene Steuerbelastung wieder zu senken. Wäre eine solche Regelung bereits in Kraft, dann würden sich SPÖ und ÖVP jetzt bittere Debatten ersparen und hätten wohl einen besseren Koalitionsstart hingelegt. (Eric Frey, DER STANDARD, 4.6.2014)