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Gezi-Park 2013: Pfefferspray gegen Architekturdozentin. Der Spritzer steht nun vor Gericht.

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Soziologenpaar Özkoray: Gezi braucht eine Partei. Foto: Bernath

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Am Samstag ist Jahrestag der Gezi-Proteste. Im Internet wird seit Tagen zu einem neuerlichen Marsch zum Gezi-Park aufgerufen. Was ist von den Protesten geblieben, was kommt? Markus Bernath sprach in Istanbul mit dem Ehepaar Özkoray.

STANDARD: Sie beide haben ein Buch mit dem Titel "Das Gezi-Phänomen" über die zwölf Tage Proteste und Parkbesetzung in Istanbul im Mai und Juni 2013 geschrieben. Was ist das Phänomen?

Erol Özkoray: Ein Phänomen ist ein außergewöhnliches, seltenes, ein unerwartetes Ereignis. Zum ersten Mal seit Beginn der Republik 1923 sind die Türken gegen die Staatsmacht aufgestanden und haben eine wirkliche Demokratie und ihre Freiheit verlangt. Es war mehrheitlich eine junge Bewegung, das ist richtig - aber sie wurde von allen Altersgruppen und Schichten unterstützt.

STANDARD: Ein Phänomen ist auch etwas Vorübergehendes.

Erol Özkoray: Nein, Gezi war eine geistige Revolution. Sie hat das Denken in den Köpfen verändert. Schauen Sie, was nach dem Grubenunglück in Soma passiert ist: Das ganze Land war auf den Beinen, um diese Arbeiter und ihre Familien zu verteidigen, die vom Staat und den Unternehmern benutzt wurden.

Nurten Özkoray: Für mich ist Gezi ein Phänomen, das die Furcht der Türken vor ihrem Staat niedergerissen hat. Denn der Staat ist hier so allgegenwärtig, so erdrückend. Ich habe als Journalistin und Soziologin jahrelang auf diese Bewegung gewartet. Aber sie ist nie gekommen.

STANDARD: Warum ist es dann im vergangenen Jahr passiert?

Nurten Özkoray: Wir hatten schon auch Protestbewegungen in den 1970er-Jahren in der Türkei. Aber die waren organisiert von Parteien und Gewerkschaften. Die Mittelklasse hat daran nicht teilgenommen. Was nun letztes Jahr in Gezi passiert ist, hat mit einem Konflikt zwischen öffentlicher und privater, individueller Sphäre zu tun und mit der Regierung, die nach ihrem zweiten Wahlsieg 2007 begann, ihr Modell von einer Gesellschaft aufzubauen. Doch wenn die öffentliche Sphäre in das Private eindringt, wenn jungen Leuten vorgeschrieben wird, ob und wie sie auf der Straße trinken oder ob Frauen eine Abtreibung haben dürfen - dann kommt der Punkt, an dem alles umschlägt. Als im Gezi-Park eine kleine Umweltbewegung mit großer Gewalt niedergeschlagen wurde, haben sich die Leute solidarisiert.

STANDARD: Kann das noch einmal geschehen?

Erol Özkoray: Nicht auf dieselbe Weise. Es muss eine politische Wende nehmen. Die Menschen haben gesehen, welche Macht sie haben - aber auch, dass ihnen eine politische Organisation fehlt.

STANDARD:  Man hat im Laufe eines Jahres gemerkt, dass sich Teile der sozialdemokratischen Partei der Gezi-Bewegung geöffnet haben.

Erol Özkoray: Die CHP? Sie kann nichts mit der Gezi-Bewegung anfangen. Ebenso wenig die anderen etablierten Parteien. Sie alle können keine wirkliche Antwort auf die Demokratieforderung der Gezi-Bewegung geben. Für mich ist der politische Ausweg die "demokratische Autonomie", eine föderale Struktur der Türkei. Das ist schwierig, aber wenn wir so weitermachen, enden wir wie der Iran.

STANDARD:  Jetzt übertreiben Sie ...

Erol Özkoray: Nein, ich übertreibe nicht. Wir leben jetzt in einer sunnitischen islamischen Republik. Man sagt es nicht so, aber so ist es. Wenn man den Mund hält, passiert nichts; wenn man ihn aufmacht, kriegt man einen Prozess.

STANDARD:  Sie stehen gerade vor Gericht, weil Sie in Ihrem Buch die Gezi-Graffiti gegen Erdogan aufgelistet haben.

Erol Özkoray: Das ist ziemlich bizarr. Ich bin angeklagt wegen Verleumdung. Ein Graffito ist aber anonym. Außerdem habe ja nicht ich sie an die Wand gesprüht.  (DER STANDARD, 31.5.2014)