War es der Heilige Geist, oder waren es die negativen Reaktionen in Deutschland? Letztendlich ist egal, was die deutsche Kanzlerin Angela Merkel bewogen hat, nun doch für Juncker als Kommissionspräsident einzutreten. "Deshalb führe ich jetzt alle Gespräche genau in diesem Geiste, dass Jean-Claude Juncker auch Präsident der Europäischen Kommission werden sollte", kündigte Merkel am Freitag überraschend an - just auf dem Katholikentag in Regensburg. Vielleicht hat Merkel erkannt, dass sie sich nicht nur an Juncker versündigt hat, sondern an allen Wählerinnen und Wählern, die vor einer Woche mit der Zusicherung an die Urnen getreten waren, sie stimmten bei der EU-Wahl erstmals auch über den Kommissionspräsidenten ab.

Zwar hatte Merkel in der Endphase des Wahlkampfs betont, es gebe keinen Automatismus. Aber es schien nicht vorstellbar, dass die Staats- und Regierungschefs einen der Ihren, der für die Europäische Volkspartei den Spitzenplatz gehalten hat, nicht als Kommissionspräsidenten nominieren würden. Aus dem EU-Parlament kam über Fraktionsgrenzen hinweg breite Unterstützung für die Kür des ehemaligen Luxemburger Regierungschefs.

Der Widerstand des britischen Premiers David Cameron und des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán war offenbar nicht nur für Merkel ein willkommener Vorwand, um Juncker nicht zu nominieren. Merkel hatte sich schon vorher gegen die Ausrufung eines Spitzenkandidaten gesträubt.

Die Staats- und Regierungschefs wollen an der Spitze der anderen EU-Institutionen lieber willfährige Handlanger, denn das stärkt ihre eigene Macht. Juncker, der in schwierigen Zeiten auch Chef der Eurogruppe war, hat sich im Kollegenkreis mit vielen angelegt - Merkel gehört ebenfalls nicht zu seinem Freundeskreis. Das rächt sich.

Das EU-Parlament hat nicht zuletzt durch den Vertrag von Lissabon mehr Kompetenzen und auch mehr Selbstbewusstsein bekommen. Zwar haben die Staats- und Regierungschefs das Vorschlagsrecht für den Kommissionspräsidenten und müssen sich mehrheitlich auf einen Vorschlag einigen; abgestimmt aber wird dann von den Volksvertretern im EU-Parlament. Das schien eigentlich eine Formsache.

Wenn nun nicht mehr gilt, dass die Bürger mit ihrer Stimme auch über den Kommissionspräsidenten mitentscheiden konnten, dann ist das Betrug am Wähler - weil nach der Wahl die Bedingungen verändert wurden. Plötzlich soll hinterher nicht mehr gelten, was vorher gesagt wurde.

Damit wird die Demokratie in Europa beschädigt, die gerade im Ukraine-Konflikt als leuchtendes Vorbild hingestellt wird. Das Vorgehen der Staats- und Regierungschefs nach der EU-Wahl trägt autoritäre Züge und ist eine Fortsetzung der Selbstermächtigung während der Finanzkrise, als - mit der Begründung von Zeitnot - Entscheidungen am Parlament vorbei getroffen wurden.

Diese Vorgangsweise ist ein Angriff auf die Demokratie. Wenn der Wählerwille nicht mehr zählt, weil er dem eigenen Wunsch nicht entspricht, dann ist das ein "Akt mutwilliger Zerstörung", wie der Philosoph Jürgen Habermas in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung feststellt. "Fortan wäre keinem Bürger die Beteiligung an einer Europawahl mehr zuzumuten." Stimmt, dann könnte man sich die nächste Wahl sparen und Merkel offiziell zur Monarchin Europas ausrufen.  (DER STANDARD, 31.5.2014)