Der Sturm treibt dichte Wolkenpakete heran und stapelt sie fein säuberlich am kahlen Berghang. Innert Sekunden sind die letzten hellblauen Löcher am Himmel verschlossen und leichter Sprühregen sorgt für diffuses Licht. Doch fast genau so schnell reißt die Wolkendecke wieder auf, und ein Sonnenstrahl beleuchtet die weiß-roten Fassaden der Holzhäuser, deren begrünte Dächer und den Rasen davor. Das Licht wirkt jetzt wie der Auftrittsspot für Wickie und die starken Männer, die in der winzigen Siedlung bei Siglufjördur im Norden Islands jederzeit um die Ecke biegen könnten.
Es verwundert kaum, dass auf der Insel aus Feuer, Eis und solchen Lichtkulissen unzählige differenzierte Mythen über die Vorfahren der jetzigen Bewohner entstanden sind. Doch die Geschichten, die nicht von hier kommen, präsentieren die Wikinger entweder als raubeinige Seefahrer, die sich ihren Lebensunterhalt durch Überfälle auf Schiffe und Siedlungen sicherten, oder eben als liebenswerte Zeichentrickfiguren.
Populäre Bilder der Wikinger
Beide Bilder von den Wikingern sind ungebrochen populär: Zum 40. Geburtstag der Serie Wickie und die starken Männer wurde der herzigen Darstellung gerade eine dritte Dimension für das 3-D-Fernsehen geschenkt und der Version vom blutrünstigen Völkchen die Hochglanzserie Vikings zur Seite gestellt. Die Realität der legitimen Nachfolger in Island sieht freilich etwas anders aus.
Nur ein paar Kilometer von Siglufjördur entfernt, in Dalvik, zieht Freyr Antonsson sein Messer, setzt die scharfe Klinge an und versenkt sie im weißen Fleisch. Mit einem räuberischen Überfall hat das wenig zu tun, denn im Norden Islands zückt seine Waffe nur noch der, der wie der 37-Jährige einen Fisch filetieren will. Längst sind die Isländer eines der friedfertigsten Völkchen überhaupt, nicht einmal eine eigene Streitkraft besitzt man und überlässt den Schutz der heimischen Gewässer der dänischen Marine.
Nein, so kriegerisch wie die Wikinger sei man nun wirklich nicht mehr, sagt Freyr schmunzelnd. „In den letzten Jahrzehnten stand der Fischfang bei uns im Fokus“, erzählt er. Gerade rund um Siglufjördur lebte man gut vom Verkauf von Salzhering und Fischöl. Direkt im Ort gab es eine riesige Fabrik in der tausende Saisonarbeiter eine Arbeit fanden, knapp 3000 Einwohner lebten hier.
Museale Fischfabrik
Heute ist die Bevölkerung auf 1300 geschrumpft und die Fischfabrik zu einem Museum degradiert. Als das „Klondike des Nordens“ bezeichnete man Siglufjördur einst. Die reichen Fischbestände katapultierten den Ort in den 1960er-Jahren an die Weltspitze in Sachen Heringfang, ehe die Tiere drastisch weniger wurden und der Niedergang einsetze.
Verbrachten die Wikinger früher Monate auf ihren Raubzügen und später, als Fischer, Wochen auf hoher See, bleiben die meisten isländischen Männer nun die ganze Zeit bei ihren Familien. Dafür distanzieren sie sich zusehends von ihren Vorfahren. Schließlich bedeutet das altnordische Víkingr doch so etwas wie „Seekrieger, der sich auf langer Fahrt von der Heimat entfernt“.
Zumindest zählen die Isländer statistisch betrachtet noch zu den größten Europäern. Und wenn der 1,90 Meter lange, muskulöse Freyr neben einem steht, wird die Statistik anschaulich. Die Ursache der Wachstumsschübe erklärt er mit einem Grinsen und: „Vielleicht liegt’s ja am Lebertran.“ Für seine Hypothese erhält er unter anderem Unterstützung von Katrin Pettursdottir aus der 400 Kilometer entfernten Hauptstadt Reykjavík. Für sie ist die Sache klar: „Was Popeye sein Spinat, ist uns Isländern der Lebertran!“
Kinderschreck mit Tradition
Lebertran, der Kinderschreck der 1950er-Jahre. Früher kannte ihn selbst in weiten Teilen Europas jedes Kind, denn er war ein täglicher, gefürchteter Begleiter. Mund auf, Löffel rein! Zwar meint die 51-jährige Firmenchefin von Lysi, in der auch das angebliche Wundermittel herstellt wird, ihren Ausspruch nicht ganz ernst, aber immerhin hat das edle Gebräu Tradition. Schon die alten Wikinger kannten es, und noch heute nimmt knapp jeder zehnte Isländer das Präparat. Pettursdottir schluckt natürlich selbst immer in der Früh zwei Stamperl zum Kaffee, und auch im Kindergarten von Siglufjördur muss jeder Nachwuchswikinger die Prozedur über sich ergehen lassen.
Den tranigen Kinderschreck findet man in isländischen Supermärkten übrigens im selben Regal wie Gummibärchen oder andere Naschereien. Doch obwohl ein nettes Bild von einem Fischkopf die Akzeptanz unter den Kleinen steigern soll, sind es eher die Erwachsenen, die heute zu diesem hellgelben Öl greifen, das aus der Leber von Kabeljau, Dorsch und anderen Fischen – nicht aber von Walen – gewonnen wird. „Wer Köpfchen hat, nimmt Lebertran“, lautet der Werbeslogan für die positiven Effekte der Omega-3-Fettsäuren auf die Hirnleistung. Da ist sie wieder, die Parallele zu Wickie, der anders als Popeye durch Geistesblitze und nicht durch kräftige Oberarme auffällt.
Branchenwechsel der Wikinger
Und so zeichnen sich auch die „Wikinger“ im heutigen Island durch Schlauheit aus. Denn wo selbst der traditionelle Fischfang auf seine Grenzen stößt, wird verstärkt auf den Tourismus gesetzt. Viele der einstigen Fischer haben die Branche gewechselt und sich auf die neue Situation eingestellt.
In Dalvik etwa jagt Freyr Antonsson nur mehr selten mit dem Netz, dafür aber täglich mit der „Draumur“ weit hinaus aufs offene Meer. Sein Boot bringt gut zahlende Kundschaft zum Hochseefischen oder mit Kameras bewaffnete Touristen zur Walbeobachtung in den malerischen Tröllaskagi-Fjord. „Ganz ohne Jagd geht es halt doch nicht“, witzelt er über die Wikinger-Traditionen in seiner Familie. Schon der Vater und Großvater waren Fischer, er selbst arbeitete auf großen Kuttern und war wochenlang weit weg von der Familie. Mittlerweile verbringt er viel mehr Zeit mit seiner Frau und den beiden Kindern. „Warum also dem alten Leben nachtrauern?“, sagt er, während er den Kopf und die Innereien eines Dorsches mit seinem Messer von der Reling der „Draumur“ ins Wasser schmeißt. Sofort entbrennt darum ein wildes Gerangel unter den Möwen – es ist die einzige kämpferische Auseinandersetzung weit und breit.
Hingabe für die Naturschätze
Zwei Fjorde weiter in Hvammstangi arbeitet Vignir Skúlason als Direktor des Seal-Center. Er ist die Art von „Wikinger“, die sich heute mit Hingabe für den Erhalt der Naturschätze ihres Landes einsetzen, und der ganze Schatz dieser Bucht sind die Robben. Sieben Arten tummeln sich im Fjord, ihre Bestände sind aber stark zurückgegangen. In einem kleinen Museum wird unter anderem die Geschichte der Robbenjagd thematisiert – nun will man aufklären, die restlichen Populationen schützen und lieber Touristen mitnehmen zur Beobachtung der Tiere. Zwar verteufelt man hier die Robbenjagd nicht als Teil einer früheren Notwendigkeit, die das raue Leben mit sich brachte – aber man ist auch glücklich darüber, dass die Tiere ohne diese Not nun endlich geschont werden.
Das Dasein an diesem nördlichen Ende Europas ist dank der rauen Natur eh noch immer ein echtes Abenteuer, aber auch ständig im Wandel begriffen. Dass man einfach nur zu „handzahmen Wikingern“ verkommen sei, sehen die Tierschützer in der Robben-Station freilich ganz und gar nicht so. Man verhalte sich mittlerweile eben eher wie Wickie, gewitzt und aufgeschlossen für Neues. Die „letzten Wikinger vom alten Schlag“ seien nämlich mit der Wirtschaftskrise verschwunden, oder hätten ihrem wilden Ruf zumindest einen neuen Anstrich verpassen müssen. (Jens-Martin Trick, DER STANDARD, Album, 31.05.2014)