Irrlichter der Großstadt: Lim Giong (li.) und Jack Kao in "Goodbye South, Goodbye" (1996) von Hou Hsiao-hsien.

Foto: Filmmuseum

Wien - Der Treffpunkt am Hauptplatz, die Straße vor der Siedlung, das Elternhaus: Die Figuren erscheinen darin wie en passant. Sie erleiden Beiläufiges und Existenzielles. Sie verschwinden wieder. Sie hinterlassen materielle und immaterielle Spuren. In Räumen, an den Orten ist die Zeit in mehrfachem Sinn aufgehoben.

In den Köpfen der Beteiligten ist das Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven gespeichert - auch das wird einem hier ganz buchstäblich über die Mise en Scène vor Augen geführt. Am Ende einer dramatischen Sequenz von A Time to Live and A Time to Die (1985) folgt der Kamerablick dem kindlichen Protagonisten Ah-hsiao, genannt Ah-ha, ins Badezimmer. Ein verzweifelter Schrei seiner Mutter lässt ihn aufschauen. In der nächsten Einstellung sitzt ein Teenager gelangweilt unter einem Baum. Dazwischen liegt ein Schnitt, der untrüglich vermittelt, dass Jahre vergangen sind, und der beispielhaft ist für die elliptische und zugleich virtuose Anlage von Hou Hsiao-hsiens Filmerzählungen.

"Ich bin A-ha," wird der Regisseur an anderer Stelle sagen: Im Jahr 1997 reist er, begleitet von seinem französischen Kollegen Olivier Assayas, einer Dolmetscherin und einem kleinen Filmteam, noch einmal nach Fengshan im Süden Taiwans. Seit A Time to Live and A Time to Die sind mehr als zehn Jahre vergangen, seit Hous eigener Kindheit dort mehr als vierzig. Aber der alte Herr Chen erkennt ihn noch. Wenn Hou dann mit einem Jugendfreund und Murmeln, die jenen von früher nur mehr ähneln, ein altes Spiel wieder aufgreift, dann montiert Assayas das musikalische Leitmotiv aus A Time to Live dazu.

Porträt in Bewegung

HHH heißt sein fürs Fernsehen produziertes Porträt Hou Hsiao-hsiens, das sozusagen unterwegs entsteht: im Gehen, auf Reisen, an Tischen im Teehaus oder vor einer Garküche, in Gesprächen mit Hou, seiner Drehbuchautorin, der Schriftstellerin Chu Tien-wen und anderen Weggefährten. Einmal etwa geht es um den Einsatz von Originalton - da schwenkt die Kamera kurzerhand hinüber zum Mann unter den Kopfhörern, der sich erinnert, was sich mit dem von Hou organisierten Erwerb eines der legendären Nagra-Tonbandgeräte alles änderte.

Das Österreichische Filmmuseum zeigt diese schöne Einführung als Begleitung zum Gesamtwerk des Regisseurs - darunter auch erstmalig in Österreich Flowers of Shanghai von 1988 sowie selten zu sehende Frühwerke wie die Komödie Cute Girl, Hous Debüt aus dem Jahr 1980.

Zur Retrospektive erscheint eine Anthologie in englischer Sprache, herausgegeben vom US-Kurator Richard I. Suchenski. Darin wird Hou nicht als singulärer Meister betrachtet: Die chinesische Produzentin und Kritikerin Peggy Chiao etwa vermittelt gesellschaftspolitische Zusammenhänge, stellt Hous Filme auch in den Kontext seiner Generation von Filmschaffenden, die das "neue taiwanische Kino" ab den frühen 1980ern, noch vor Beendigung des Jahrzehnte währenden Kriegsrechts 1987, definierte.

Hou selbst hatte seine Formation als leidenschaftlicher Kinogänger erhalten, seine ersten Regiearbeiten orientierten sich an populären Genrefilmen. Aber mit den Boys from Fengkuei und dem Episodenfilm The Sandwich Man beginnt 1983 eine Auseinandersetzung mit individuellen Lebensgeschichten, die von der wechselvollen Geschichte Taiwans nicht zu trennen sind. Eine Auseinandersetzung, die für das Filmschaffen Hous zentral bleibt.

Ein Filmemacher, sagt Hou einmal in HHH, müsse sich den Elan seiner frühen Arbeiten bewahren und dürfe sich im Alter nicht auf seinen Meriten ausruhen. Wie das geht, das zeigt Herr Hou, der inzwischen auch schon 67 Jahre zählt, mit Millennium Mambo (2001) ebenso wie mit seinem vorerst letzten Kinofilm Die Reise des roten Ballons (2007). (Isabella Reicher, DER STANDARD, 30.5.2014)