Im Streit um die Nominierung von Jean-Claude Juncker tat sich beim EU-Gipfel zum Teil eine völlig verkehrte Welt auf. Mehrere christdemokratische Regierungschefs sprachen sich hinter verschlossenen Türen offen gegen ihren Ex-Kollegen aus. Seltsam: Erst vor drei Monaten hatten sie ihn beim EVP-Gipfel von Dublin noch persönlich zu ihrem "Spitzenkandidaten“ für die Europawahlen gekürt.

Auf der anderen Seite trat nicht nur der liberale luxemburgische Ministerpräsident Xavier Bettel vehement für seinen Landsmann ein, sondern auch eine Reihe von SP-Regierungschefs.  Mit am deutlichsten tat dies der österreichische Kanzler Werner Faymann, aber auch der Italiener Matteo Renzi und der französische Präsident Francois Hollande sind dafür, dass das Wählervotum für Juncker anzuerkennen sei – womit der eigene rote Kandidat Martin Schulz aus dem Spiel wäre.

Aber es entwickelte sich zum Erstaunen der Roten im Rat keine größere Dynamik  pro Juncker, nicht nur weil der konservative britische Premierminister David Cameron dezidiert gegen den ehemaligen Mister Euro auftrat, sogar ziemlich beleidigend mit der Feststellung, er wünsche einen "verständnisvolleren Kandidaten“. Dabei gilt er selber unter seinen Kollegen seit dem Abgang von Silvio Berlusconi als der deutlich verständnisloseste Premier.

Aber Sympathie und Freundschaft ist zwischen Regierungen keine Kategorie. Da geht es beinhart um Interessen.

Der Hauptgrund, warum es auf den ersten Blick so aussieht, als wäre Juncker als künftiger Kommissionspräsident schon wieder abgeschossen, noch bevor er als Wahlsieger vom Sonntag überhaupt die ersten Gespräche über das Programm und die künftigen Kommissare geführt hat, hat einen Namen: Angela Merkel.

Die deutsche Kanzlerin, für Taktieren und Abwarten als Hauptcharakteristikum ihres Regierungsstil berühmt-berüchtigt, tat im Rat nichts, um ihre schwarzen Regierungschefkollegen auf Linie pro Juncker zu bringen, den sie ihrer Parteienfamilie EVP gemeinsam mit dem griechischen Premier Antonis Samaras persönlich vorgeschlagen hatte.

Im Gegenteil: Sie hielt sogar ausdrücklich fest, dass sie sich nicht festlege. Bei einer anschließenden Pressekonferenz betonte sie auch in fast ärgerlichem Ton, dass man "am Tag zwei nach der Wahl doch nicht Druck erzeugen kann“.

Das durfte als klares Signal an das nach mehr Einfluss strebende Europäische Parlament verstanden werden. Das Präsidium der Präsidenten und Fraktionschef hatte nur Stunden vor dem EU-Gipfel beschlossen, dass Juncker als Wahlsieger das Recht habe, von den Regierungschefs nominiert zu werden. Das schmeckt der Kanzlerin, die gerne auf zwischenstaatliche Zusammenarbeit wie bei er Eurorettung, auf die eigene Macht also, setzt, gar nicht.

Merkel spielt genüsslich auf Zeit. Kein Wunder, wenn von der internationalen Presse geschürt sofort die Gerüchte angeheizt wurden, Merkel wolle Juncker nicht nur nicht unterstützen, sondern sogar verhindern. Insbesondere in Großbritannien freut man sich über diese Interpretation des Geschehens. Das System "Spitzenkandidat“ wird dort eher belächelt, als Versuch, die Vergemeinschaftung auf eine Weise voranzutreiben, wie das den britischen EU-Skeptikern gar nicht gefällt.

Vor allem in Deutschland ist es genau umgekehrt. Da begann nach der Merkel-Herumeierei, wie manche Kommentatoren meinten, sofort eine wilde Debatte, dass es ein echter Wahlbetrug wäre, wenn Juncker jetzt nicht an die Kommissionsspitze käme, nachdem er von den EVP-Parteien doch als der einzige Spitzenkandidat dafür präsentiert worden sei. Merkel sprach gestern Nacht aber ausdrücklich davon, dass nicht nur er, sondern auch "einige andere“ den Job erledigen könnten.

Was die europäische Öffentlichkeit bei dieser Auseinandersetzung gut ablesen kann, ist die Aufsplitterung und der völlig unterschiedliche Zugang von Ländern, Völkern und Regierungen zum Thema, frei nach Goethe: "Wie hältst Du es mit der europäischen Integration?“ Eine Art Religionskrieg.

Der Streit um Juncker spiegelt einen der härtesten und interessantesten Machtkämpfe, die die Union seit sehr langer Zeit gesehen hat. So grundsätzlich wurde zuletzt nur bei der Einführung des Euro zwischen dem deutschen Kanzler Helmut Kohl und dem französischen Präsidenten Jacques Chirac gekämpft. Das Europäische Parlament steht in der Frage "Juncker als Präsident“ geschlossen und frontal gegen die Premierminister im Rat. Für die Parlamentarier geht es schlicht darum, eine neue Phase der Demokratisierung und Bürgermitsprache in EU-Institutionen einzuleiten, vom nationalstaatlich dominierten Europa wegzukommen.

Aber auch die Regierungschefs sind untereinander gleich mehrfach gespalten. Es gibt die Gruppe der Nordländer, "die Freihändler“, mit Schweden, Finnland, Dänemark, auch den baltischen Staaten, die skeptisch sind gegen allzu rasche und viel EU-Integration – mit starken gemeinschaftlichen EU-Institutionen. Das hat Tradition seit deren Beitritten.

Die Zentrums- und Gründerstaaten – Benelux, Österreich, Frankreich, Italien, Spanien - sind tendenziell für die Stärkung der EU, auch für den Ausbau der Demokratie, also auch die Stärkung des EU-Parlaments.

Nur Cameron, der von Rechtsextremen und EU-Skeptikern auf seiner Insel ins Eck gedrängte schwächste britische Premierminister seit Edward Heath 1974, spielt eine Sonderrolle. Wenn er über den aus seiner Sicht nötigen Rückbau der Union, die Zurückverlagerung der EU-Kompetenzen in die Nationalstaaten spricht, ist er von den Rechtsextremen in Frankreich um Marine Le Pen oder der Austrittspartei Ukip seines britischen Landsmannes Nigel Farage kaum noch zu unterscheiden.

Die Osteuropäer halten sich bei diesen Auseinandersetzungen still zurück, mit Ausnahme von Orban, der Juncker aus ganz persönlichen Gründen böse ist: Der Luxemburger hat die Verfassungsverbiegungen des zum ungarischen Nationalisten mutierten ehemaligen Freiheitskämpfers Orban kritisiert.

So steht der Kampf um den künftigen Kommissionschef derzeit symbolisch für eine große inhaltliche Auseinandersetzung um die wichtigsten Demokratiefragen der Union: Soll es zurück Richtung Nationalstaaten gehen, oder doch weiter in Richtung eines enger zusammenrückenden Europa? Juncker, der sanfte Christdemokrat, der ehemalige Mr. Euro, scheint zwischen allen Stühlen zu sitzen.

Sind seine Chancen dahin? Gar nicht. Das Match ist noch lange nicht zu Ende. Das Rennen um die wichtigsten EU-Posten ist in der ersten Halbzeit. Entscheidend wird am Ende sein, wie die deutsche Kanzlerin sich positioniert. Ihre Vorsicht beim Gipfel ist durchaus verständlich: Eine deutsche Kanzlerin kann einen britischen Premierminister nicht einfach so öffentlich vorführen. Dazu sind wechselseitige nationale Interessen zu wichtig. Aber irgendwann wird sie sich entscheiden müssen, kann die Dinge nicht nur laufen lassen.

Wie Merkel den Daumen über Juncker senkt oder hebt, wird ausmachen, ob er eine neue Kommission bilden kann. Die meisten der schwankenden Regierungschefs, die im Übrigen alle aus kleinen Staaten mit wenig politischem Gewicht kommen, werden sich ihre Zustimmung wohl abkaufen lassen.

Bleibt nur die Frage, was man mit Cameron macht, der im nächsten Jahr in Großbritannien Neuwahlen zu bestreiten hat. Es ist nicht ganz ersichtlich, was er politisch wirklich will, außer ständig zu erklären, was er nicht will. Juncker zu verhindern, einfach nur um eine andere schwache politische Figur wie den Iren Enda Kenny oder den Finnen Jyrki Katainen an die Kommissionsspitze zu bringen, ist doch etwas durchsichtig.

Aber das entspräche andererseits einer schlechten Tradition seit 1994. Damals war Jacques Santer Kommissionspräsident geworden, weil John Major den viel stärkeren Kandidaten Jean-Luc Dehaene aus Belgien verhindert hat. Und so war es 2004 bei José Manuel Barroso. Gefügige Kommissionschefs, das haben die Regierungschefs gerne.

Aber diesmal könnten sie sich verschätzen, wenn das Europaparlament nicht mitspielt. Und Merkel in der kritischen Öffentlichkeit Deutschland eine ganz unangenehme Debatte über Wählertäuschung aufgezwungen wird. Denn sie selber hat den Spitzenkandidaten Juncker gemacht und im Wahlkampf beworben.  (derStandard.at, 28.5.2014)