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In der Mittelschicht ist nicht nur alles Zuckerschlecken. Ein Untergangsszenario will Soziologe Vogel aber nicht zeichnen.

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Berthold Vogel: "Wenn wir über gesellschaftliche Verteilungsfragen gerade in Mitteleuropa reden, kommen wir also nicht umhin, auch über den Wohlfahrtsstaat nachzudenken."

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Mit der Mittelschicht lässt sich leicht politisches Kleingeld machen. Sie gilt als Rückgrat der Gesellschaft, soll entlastet und gefördert werden und wird überhaupt gerne umworben. Kein Wunder, denn schließlich umfasst sie einen sehr großen Teil der Bevölkerung, selbst wenn die gesellschaftliche Mitte schrumpft. Laut jüngsten Daten der OECD wird in Österreich der Anteil der mittleren Einkommensbezieher seit Mitte der 1990er stetig ein bisschen kleiner. In Österreich zählen dennoch über 60 Prozent der Erwerbstätigen zur Mittelschicht und verdienen dabei zwischen 1.100 und 2.400 Euro (gemessen am Medianeinkommen) netto im Monat.

Der deutsche Soziologe Berthold Vogel beschäftigt sich seit Jahren mit der gesellschaftlichen Mitte. Warum der Feind in der eigenen Klasse zu finden ist, was die da oben und die da unten damit zu tun haben und ob breiter Mittelstand auch ohne Sozialstaat geht, darüber spricht der Soziologe im derStandard.at-Interview.

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derStandard.at: Die Mittelschicht wird kleiner, davon liest man zumindest immer wieder. Wie bedroht ist die Spezies des Mittelschichtlers in Deutschland oder Österreich denn wirklich?

Berthold Vogel: Die Mitte der Gesellschaft ist eine komplizierte Angelegenheit. Selbst wenn sie kleiner werden würde, wofür ja einiges an Statistiken zur Einkommens- oder Vermögensverteilung spricht, ist sie immer noch eine sehr große und sehr differenzierte Gruppe. Man muss sehen, über welche Orte der gesellschaftlichen Mitte man spricht.

derStandard.at: Welche zum Beispiel?

Vogel: Im Bereich der unteren Mittelschicht, in den klassischen Aufstiegszonen der Gesellschaft, wo man vom Facharbeiter in gehobene Positionen kommt, haben sich viele Dinge verändert. Hier herrscht das Gefühl vor, nicht mehr so richtig voranzukommen, und die Sorge, abzurutschen.

derStandard.at: Wie definiert sich die Mittelschicht eigentlich? Wo fängt sie an, wo hört sie auf?

Vogel: In der Regel wird die Mittelschicht über das Einkommen definiert, dazu zählen jene, mit rund 80 bis 140 Prozent des Durchschnittseinkommens. In Deutschland ist der Anteil am gesamten Einkommensspektrum in den vergangenen Jahren von 66 auf 60 Prozent zurückgegangen. Aber auch das ist noch eine große Gruppe.

Was man sinnvollerweise in die Definition miteinschließen sollte, sind Bildungsabschlüsse. Früher war Mittelschicht überall dort, wo eine bestimmte berufliche Qualifikation vorhanden war. In der heutigen Diskussion beginnt Mittelschicht eigentlich mit dem Abschluss einer höheren Schule, also dem Abitur bzw. der Matura. Alle, die damit auf den Arbeitsmarkt treten, sind Mitte der Gesellschaft.

Eine andere Definition erfolgt über Statusposition, über Prestige in beruflichen Positionen. Denn wenn wir über Mittelschicht reden, haben wir bestimmte Berufe im Kopf: Rechtsanwälte, Lehrer, Ingenieure, Ärzte. Wenn man das zusammennimmt – Einkommen, Bildung und Status –, dann hat man relativ große Schnittmengen.

derStandard.at: Sie haben vorhin gesagt, der Aufstieg wird schwieriger. Wie berechtigt sind denn Abstiegsängste?

Vogel: Die Ängste muss man ernst nehmen. Die werden gerne heruntergespielt, nach dem Motto: Die sollen sich mal nicht so haben, denen geht’s ja immer noch ganz gut. Wir können drei zentrale gesellschaftliche Veränderungen beobachten. Die eine ist, dass Erwerbsarbeit in Österreich oder Deutschland prekärer geworden ist. Im Bereich der Banken, des öffentlichen Dienstes, der Industrie, überall da, wo früher eine solide Mittelschicht vorhanden war, haben wir heute auch Leiharbeit, befristete Dienstverhältnisse. Gerade jüngere Leute kommen nur so in diese Berufe. Außerdem dehnt sich der Niedriglohnsektor immer weiter aus. Nicht nur in den Randlagen der Gesellschaft, sondern auch in den mittleren Berufsgruppen. Erwerbsarbeit hat nicht mehr diese Sicherheit, dieses Aufstiegsversprechen wie früher.

Zweitens hat sich der Sozialstaat grundlegend verändert. Er macht nicht mehr dieses Sicherungsversprechen, dass jemand, der einen bestimmten Status erreicht hat, diesen auch behalten wird. Es wird immer mehr Eigenverantwortung an den Bürger übertragen. Das heißt, selbst wenn wir in einer Mittelschichtsfamilie gleichbleibende Einkommen haben, muss mehr für die Gesundheitsversorgung, für die Pensionsvorsorge, für die Schulbildung der eigenen Kinder aus der eigenen Tasche aufgebracht werden.

Drittens verändern sich Familienstrukturen. Familien werden tendenziell kleiner, es sind weniger Kinder da, die Netzwerke sind kleiner. Das spielte für die Mitte immer eine Rolle, dass man Aufstieg auch über Verwandschaftsnetzwerke realisiert hat. Diese drei Veränderungen kommen ganz unterschiedlich in der Mitte an und treffen sie. Sie lösen Sorgen und Ängste aus, die kann man nicht einfach so wegwischen.

derStandard.at: Bedarf eine breite Mittelschicht eines Wohlstandsstaates? Geht das eine ohne das andere nicht?

Vogel: Die breite Aufstellung der Mittelschicht in unserer Gesellschaft hat natürlich etwas mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates zu tun. Nicht nur in Bezug auf soziale Sicherung. Der Sozialstaat war immer ein wesentlicher Arbeitgeber, zum Beispiel im Gesundheitssystem, im Schul- und Bildungswesen, in der öffentlichen Verwaltung. Das ist für den Aufbau einer Mittelschicht substanziell. Wenn wir über gesellschaftliche Verteilungsfragen gerade in Mitteleuropa reden, kommen wir also nicht umhin, auch über den Wohlfahrtsstaat nachzudenken.

derStandard.at: Mit wem ist die Mittelschicht nun im Verteilungskampf, wenn wir das einmal so martialisch nennen wollen? Wer sind die Gegenspieler? Die, die von unten hinaufwollen, oder die, die von oben absahnen?

Vogel: Die typischen Mittelstandspositionen sind: Die oben tun immer weniger für die Gesellschaft, weil sie ihre Leistung über Steuerflucht und so weiter vorenthalten. Die unten, die tun auch nichts für das Gemeinwesen. Bei den Europa-Wahlen vergangene Woche haben in vielen Ländern gerade jene Parteien, die mit einem starken Ressentiment arbeiten, dazugewonnen. Diese Parteien bedienen durchaus den Eindruck der Mitte der Gesellschaft: immer ein bisschen zu kurz zu kommen, immer zur Leistung aufgefordert zu sein, aber die anderen tun nicht mit. Weder die oben noch die unten. Das ist eine generelle Eigensicht, die in der Mittelschicht immer da war.

derStandard.at: Die Eigenansicht des stabilisierenden Leistungsträgers …

Vogel: … genau. Die Mitte der Gesellschaft ist immer gut für Ressentiments dieser Art ansprechbar und ist eben leicht abgrasbar für politische Parteien. Dabei finden die Verteilungskonflikte vor allem innerhalb der Mittelschicht statt. Die Mitte ist gewissermaßen sich selbst der schärfste Feind, innerhalb der eigenen Klasse.

Wenn wir uns die Verteilungsströme anhand von Steueraufkommen und Steuerverteilung ansehen, profitiert die Mittelschicht einerseits am stärksten davon. Andererseits ist sie aber auch am meisten belastet. Deswegen ist es besonders interessant, nicht nur pauschal auf "die Mitte" zu schauen, sondern zu fragen: Wer sind diejenigen, die ihre Interessen durchsetzen oder artikulieren können, die ihre Privilegien sichern können, jene, die berechtigterweise ihre Benachteiligung einklagen können?

derStandard.at: Wer kann sich im Moment durchsetzen?

Vogel: Ich glaube, dass schon diejenigen am stärksten sind, die noch über die Privilegien verfügen, die durch Wohlfahrtsstaat und Arbeit gesichert sind. Letztendlich ist es die Generation, die mit diesen Privilegien groß geworden ist. Die Generation, die immer noch gut über Wahlen ihre eigene Position durchzusetzen versteht.

Generell sind es jene, die noch fest verankert sind in den erwerbsgesellschaftlichen Strukturen, die über eine gewisse Form der Stabilität verfügen und auch über Gewerkschaft und Verbände eine starke Interessenvertretung haben. Damit lassen sich noch immer Status, Privilegien oder Sicherheit ganz gut verteidigen. Schwächer sind jene, die aus diesen Strukturen fallen. Jene, die im Hamsterrad laufen und laufen, sich anstrengen, um gesellschaftlich mitzukommen, aber den Eindruck haben, keine wirkliche Lobby zu haben.

derStandard.at: Sie haben es zu Beginn angeschnitten, da spielen auch die steigende Anzahl an prekären Beschäftigungsformen wie Leiharbeit, freie Dienstnehmer, neue Selbstständige eine Rolle.

Vogel: Wenn man sich Betriebe oder Behörden anschaut: Da sitzen in Abteilungen Leute nebeneinander und machen ähnliche Dinge, sind aber in unterschiedlichen Beschäftigungsverhältnissen und damit in unterschiedlichen Status- und Rechtsformen. Oft kann ein Bildungsabschluss nicht mehr finanziell umgesetzt werden. Das sind auch Konflikte, die in den Betrieben sehr präsent sind. Da geht es nicht mehr um die da oben und die da unten oder Konflikte zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Die Konflikte um die Mitte spielen sich in der Mitte der Gesellschaft ab.

derStandard.at: Wenn man die Mittelschicht heute ansieht und – sagen wir – die 1970er-Jahre hernimmt: Wo liegen neben den schon erwähnten Trägergruppen und den Veränderungen beim Sozialstaat weitere Unterschiede?

Vogel: Die gesellschaftliche Stimmung ist eine andere. Im Vergleich zu den 1970ern ist die Aufstiegseuphorie weg, die Expansion von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen findet so nicht mehr statt. Auch das Integrationsversprechen gehört dazu, die Frage, wer gehört zur Gesellschaft dazu und wie gelingt Integration. Die Arbeitswelt ist differenzierter, vielgestaltiger, für viele auch schwieriger geworden.

Auf der anderen Seite sind die Chancen im Vergleich zu den 70er-Jahren für einige gesellschaftliche Gruppen wiederum breiter geworden. Frauen haben zum Beispiel in einem sehr viel stärkeren Ausmaß am Erwerbsleben teil. Gerade junge Frauen haben wesentlich mehr Möglichkeiten, sich im Berufsleben zu entwickeln. Die Gesellschaften Mitteleuropas sind von ihrer ethnischen Zusammensetzung her komplexer geworden, Migranten haben heute viel mehr Chancen, sich gesellschaftlich zu entwickeln, gerade in Deutschland oder Österreich. Insofern sollte man nicht nur ein Untergangsszenario für die Mittelschicht zeichnen. (Daniela Rom, derStandard.at, 2.6.2014)