Ärzte stehen der fortschreitenden Schädigung von Gehirnbereichen bei MS-Patienten nicht mehr hilflos gegenüber. "Es gibt mittlerweile neun verschiedene zugelassene Medikamente", erklärt der Innsbrucker Neurologe Thomas Berger. Als besonders erfolgreich gelten monoklonale Antikörper wie Natalizumab. Dieses künstlich hergestellte Protein hat eine Struktur, welche genau auf den Bauplan von Rezeptormolekülen an der äußeren Membran von T-Zellen abgestimmt ist.

Blut-Hirn-Schranke überwinden 

Die Rezeptoren haben normalerweise die Funktion, eine Verbindung mit entsprechenden Bausteinen an der Oberfläche von Endothelzellen von Blut- und Lymphgefäßen einzugehen. So können die T-Zellen unter anderem die Blut-Hirn-Schranke überwinden und in das Gehirn eindringen. Wenn jedoch die Rezeptoren durch anheftende Nataluzimab-Antikörper blockiert sind, wird die Passage unmöglich. Die gefürchtete Entzündungskettenreaktion, die bei der Entstehung von multipler Sklerose eine zentrale Rolle spielt, bleibt aus oder kann nur gebremst stattfinden. Die Bildung von Plaques ist damit zumindest zeitweilig gestoppt.

Ein ganz anderer Ansatz wurde von Bergers Kollegen Andreas Lutterotti und einem internationalen Expertenteam erprobt. Die Forscher entnahmen mehreren MS-Patienten weiße Blutkörperchen, vermehrten diese in Kulturen und versahen deren Oberfläche über ein spezielles biochemisches Verfahren mit sieben verschiedenen, Autoimmunreaktionen auslösenden Myelinbestandteilen. Anschließend bekamen die Testpersonen die so behandelten Zellen per Injektion wieder verabreicht. Das Wirkungsprinzip dieser Methode entspricht im Grunde genommen einer klassischen Desensibilisierungstherapie.

Umschulung der Abwehr

Das Immunsystem soll lernen, die Antigene, in diesem Fall Myelin-Peptide, als harmlos zu erkennen und keine Entzündungskaskade zu starten. Die ersten Tests zeigten eine gute Verträglichkeit und verringerte Autoimmunreaktionen bei steigenden Dosen auf (vgl.: Science Translational Medicine, Bd. 5, 180ra75). Ein hoffnungsvolles Ergebnis. Eine Phase-II-Studie ist gemeinsam mit Kollegen der Universität Zürich in Planung.

Weitere vielversprechende Möglichkeiten sieht Thomas Berger in der Entwicklung von sogenannten neuroprotektiven Maßnahmen. Entgegen früheren Annahmen sind das Gehirn und seine Zellen durchaus regenerationsfähig. Der Neuaufbau von geschädigten Myelinschichten ist hierfür ein klarer Beleg. Bei gesunden Erwachsenen werden solche Prozesse allerdings durch Botenstoffe gehemmt. Ihr Gehirn soll schließlich nicht einfach weiterwachsen.

Geeignete Antikörper könnten solche STOP-Proteine indes gezielt deaktivieren und damit den Regenerationsmechanismus einschalten. Eine klinische Phase-II-Studie ist hierzu auch bereits geplant. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 28.5.2014)