In einer Fliegenzuchtanstalt in Kanada werden bereits jährlich 36.000 Tonnen Abfall mittels Maden in 1800 Tonnen Tierfutter, 1000 Tonnen Öl und 3000 Tonnen Dünger umgewandelt.

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Damit wird die Insektenzucht - Ekelfaktor hin oder her - zur eleganten Lösung für einige Probleme.

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Auch Hühner sind potenzielle Madenmehlkonsumenten.

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Wien - Fliegen fressen alles, und sie fressen immer: Gammelfleisch, Hühnermist, verrottendes Obst. Täglich nehmen sie das Doppelte ihres Körpergewichts zu sich. Das tun sie so lange, bis man sie schockgefriert oder kocht. Danach trocknet und zerreibt man sie. Das fertige Produkt ist ein bräunliches Pulver: Madenmehl, ein Pulver, das die Tierzucht des 21. Jahrhundert revolutionieren könnte.

"Insekten wandeln jeglichen organischen Abfall in hochwertige Proteine um", sagt Marcel Dicke, Insektenforscher an der Wageningen-Universität in den Niederlanden, "wir haben diese Möglichkeit der Proteinproduktion viel zu lange außer Acht gelassen." Das ist nicht länger mehr der Fall.

Weltweit laufen Versuche, wie man Insekten in großem Stil zu Tierfutter verarbeiten kann. Denn die Proteinversorgung ist zu einem drängenden Problem geworden: Die wachsende Weltbevölkerung verlangt nach Nahrung. Laut Berechnungen der Vereinten Nationen muss allein die Weizenproduktion bis 2050 um 60 Prozent steigen, um die bis dahin gut neun Milliarden Menschen sattzumachen. Auch der Fleisch- und Fischkonsum steigt besonders in den Entwicklungsländern stetig an.

Bevor Hühnerbrust und Lachssteak jedoch auf dem Teller landen, müssen die Tiere fressen - und zwar Proteine. Meist Soja- oder Fischmehl. So gewaltig groß ist der Fleischhunger, dass heute schon 85 Prozent der weltweiten Sojaproduktion von 210 Millionen Tonnen im Kraftfutter landen. Und ein Viertel der jährlich weltweit gefischten Fische und Meeresfrüchte - das sind rund 20 Millionen Tonnen - werden zu Fischmehl verarbeitet. Das macht Fische, Hühner und Schweine, die zur Ernährung des Menschen gedacht sind, zu unseren direkten oder indirekten Nahrungskonkurrenten.

Video: In China werden Insekten als Viehfutter bereits eingesetzt. Nun prüfen Experten, ob die Maden auch bei uns eine Alternative zu Industriefutter aus Soja- und Fischmehl wären. (Quelle: Youtube/European Research Media Center)
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Eine Lösung mit Ekelfaktor

Das Problem wird noch verschärft: Die Fläche an fruchtbarem Land nimmt durch den Klimawandel und die fortschreitende Verstädterung ständig ab, das Meer ist überfischt. Entsprechend sind die Preise für Weizen, Soja und auch Fischmehl in den vergangenen Jahren explodiert.

Die Insektenzucht ist - Ekelfaktor hin oder her - eine elegante Lösung des Problems: Die Sechsbeiner warten nicht nur mit wertvollen Proteinen auf, sie ernähren sich auch noch von Abfall - einer schier unendlichen Ressource. Allein in der EU werden 90 Millionen Tonnen Lebensmittel jährlich weggeworfen.

Doch wie gut lassen sich Insekten massenweise produzieren? Und ist das daraus gewonnene Tierfutter qualitativ vergleichbar mit Soja- oder Fischmehl?

Elaine Fitches von der staatlichen britischen Nahrungsmittelforschungsagentur Fera koordiniert das Projekt PROteINSECT, das die EU mit drei Millionen Euro fördert. "Wir wollen den Nachweis erbringen, dass Insektenproteine eine sichere, nachhaltige und effiziente Futterquelle sind", sagt Fitches. Sie und ihre Kollegen untersuchen ebenso, wie die Massenproduktion von Insekten automatisiert werden kann. "Insekten zu züchten mag einfach klingen, aber um dies im industriellen Maßstab zu machen, braucht es noch einige Arbeit", sagt Fitches.

Die Forscher feilen an Faktoren wie Temperatur, Luftfeuchtigkeit und vor allem der Nahrungsbeschaffenheit: Wie feucht muss der Abfall sein? Wie lange lässt er sich lagern? Auch die potenziellen Risiken der Proteinproduktion - etwa Verunreinigungen mit Chemikalien oder Keimen - nehmen Fitches und ihre Kollegen unter die Lupe.

Maden- statt Fischmehl

Auch am Forschungsinstitut für biologischen Landbau in der Schweiz wurde bereits mit Fliegenmadenmehl experimentiert. Das Ergebnis: Bis zu 50 Prozent des Fischmehls lassen sich in der Forellenzucht durch Madenmehl ersetzen. Die "Fliegen-Forellen" wachsen ebenso gut wie ihre herkömmlich gefütterten Artgenossen. In Europa und der Schweiz ist es momentan allerdings noch verboten, Insektenmehl an Wirbeltiere zu verfüttern. Doch das Thema ist bei den Behörden präsent. Experten rechnen in den nächsten zwei Jahren mit der Zulassung als Tierfutter.

Andere Länder sind bereits einen Schritt weiter. Brad Marchant ist Geschäftsführer von Enterra, einem Fliegenzuchttestbetrieb in Vancouver. "Die größte Herausforderung war die Automatisierung der Fliegenzucht", sagt auch Marchant. Sechs Jahre tüftelten Enterra-Mitarbeiter an dem Prozess. Heute füttern sie ihre Maden mit einer Lebensmittelrestemischung, die aus 85 Prozent Früchten und Gemüse und 15 Prozent Brot, Brauereiabfällen und Fischresten besteht.

Die Maden fressen sich zwei Wochen lang dick und rund und werden dann geerntet. Ein Teil darf sich zu Fliegen entwickeln, die sich paaren und Eier legen und so den Kreislauf erhalten. Auf diese Weise wandelt Enterra 36.000 Tonnen Abfall in 1800 Tonnen Madenmehl und 1000 Tonnen Öl pro Jahr um. Hinzu kommen 3000 Tonnen Dünger - pure Larvenexkremente.

"Wir produzieren nicht nur Tierfutter, wir gewinnen auch Nährstoffe aus Lebensmitteln zurück, die normalerweise verrotten würden", sagt David Suzuki, ein bekannter kanadischer Umweltaktivist und Mitgründer von Enterra. "Es ist ein Schritt in die richtige Richtung: Wir müssen unsere Ressourcen nachhaltig nutzen, so wie die Natur es auch tut." Noch dieses Jahr ist der Bau eines industriellen Betriebs mit einem entsprechend größeren Produktionsvolumen geplant.

Der Star der Fliegenzucht

Enterra nutzt so wie viele andere Testbetriebe die schwarze Soldatenfliege Hermetia illucens - das ist der Star im Fliegenzuchtuniversum. Ihre Larven sind gefräßig und groß und bestehen zu 42 Prozent aus Protein und zu 35 Prozent aus Fett. Bei entsprechender Fütterung reichern sie ungesättigte Fettsäuren wie Omega-3 an.

Das Unternehmen Agriprotein in Südafrika nutzt neben den Soldatenfliegen auch Haus- und Schmeißfliegen und bietet damit Larven mit unterschiedlicher Protein- und Mineralstoffzusammensetzung an. Mehrere Jahre hat Agriprotein an der Optimierung der Fliegenzucht gearbeitet, denn Haus- und Schmeißfliegen fressen lieber Blut und Schlachtabfälle als Obst und Gemüse. In Zusammenarbeit mit der Stellenbosch-Universität hat Agriprotein etliche Proteinvergleichsstudien durchgeführt. Im Mai 2013 gewann die Forschungskooperation den African-Innovation-Preis.

Agriprotein ist der weltweit führende Fliegenzuchtbetrieb: "Wir werden noch dieses Jahr zwei Betriebe in Südafrika bauen. Der eine wird 110 Tonnen Abfall täglich aufnehmen, der andere 165 Tonnen", sagt der Gründer Jason Drew, der 40 weitere Betriebe auch in Europa plant. "Es ist ein einträgliches Geschäft und wird überall Partner finden."

Ein schlagendes Argument haben alle Insektenfarmer auf ihrer Seite: Insekten sind die natürliche Nahrung von Hühnern und Fischen. Weswegen Drew auch überzeugt ist, dass "Müllrecycling durch Fliegen in 15 Jahren so normal sein wird wie heute Papier- und Glasrecycling." (Juliette Irmer, DER STANDARD, 28.5.2014)