Nach dem Schließen der Wahllokale begann im Europäischen Parlament und in den Regierungszentralen der Mitgliedstaaten das große Rechnen und Taktieren. Nun müssen tragfähige Mehrheiten für die Verteilung der Macht im Plenum gefunden werden. Davon hängt ab, wie die wichtigsten Exekutivämter der Union vergeben werden: Präsident der EU-Kommission, dann EU-Außenbeauftragte und Präsident des Rates der Regierungschefs.

Es dürfte Tage, wenn nicht gar Wochen dauern, bis diesbezüglich völlige Klarheit herrscht. Anders als nationale Wahlen sind Europawahlen eine komplexe Sache. In der zweitgrößten Demokratie der Welt (nach Indien) waren rund 380 Millionen Wähler aus 28 Staaten wahlberechtigt. Nicht weniger als 948 Listen und Parteien sind angetreten, circa 160 bis 170 dürften den Einzug ins Parlament geschafft haben. Wie sich die 751 EU-Abgeordneten nun zu weltanschaulich kompakten Fraktionen zusammenfinden, hängt noch von vielen Unbekannten ab.

Ideologische Links-rechts-grün-liberal-Schemata passen nicht, weil auch nationale Interessen stark hineinspielen. Dazu kommt: Populisten und Extremparteien wollen die EU auflösen, nicht mitspielen. Am Wahlabend schien nur sicher: Nationalpopulisten (linke und rechte) legten zu, in Frankreich triumphierte der Front National auf Platz eins.

Die Parteien im Zentrum bauten ab. Am stärksten trifft das die Christdemokraten, die aber 2009 im Vergleich zu den Sozialdemokraten (besonders in Frankreich, Italien, Großbritannien) sehr stark waren. Nur der Abstand zur SP ist geringer. Weil auch Liberale und Grüne abbauten, wird sich eine Regenbogenmehrheit kaum ausgehen.

Dennoch: Die Europawahl könnte als Wendepunkt in die Geschichte eingehen - im positiven Sinn. Erstmals müssen die Staats- und Regierungschefs auf Basis des EU-Vertrags von Lissabon die Wahlergebnisse berücksichtigen, wenn sie den neuen Präsidenten der EU-Kommission nominieren. Einige wenige (wie der EU-skeptische Brite David Cameron) wollen das unterlaufen. Er setzt auf ein nationalstaatlich dominiertes Europa.

Aber die beiden großen Volksparteien (die 23 von 28 Regierungschefs stellen) haben mit Jean-Claude Juncker (EVP) und Martin Schulz (SPE) ihre Spitzenkandidaten informell bereits nominiert. Sie können da schwer wieder zurück. Nur die beiden haben im neuen System der indirekten Präsidentenwahlen jetzt die Chance, eine Mehrheit im Parlament zu finden. Der Favorit ist Juncker. Der EU-Gipfel wird am Dienstag das Prozedere festlegen.

Sollte es Juncker (oder Schulz) gelingen, sich mit den Fraktionen auf ein Arbeitsprogramm zu einigen (wahrscheinlich; eine große Koalition EVP/SPE), dann wird es für die Regierungschefs sehr schwer, das zu ignorieren. Es wäre ein Schlag in das Gesicht der Wähler. Das letzte Wort hat laut EU-Vertrag ganz eindeutig das Europaparlament. Es wählt am Ende den "Regierungschef" der Kommission mit Mehrheit - fast schon wie in den Nationalstaaten. (Thomas Mayer, DER STANDARD, 26.5.2014)