Andrew Moravcsik, EU-Experte und Eurokritiker

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Standard: EU-feindliche Parteien dürften bei der Europawahl stark dazugewinnen. Ist das ein Krisenzeichen für das Projekt Europa?

Moravcsik: Nein und ja. Europawahlen sind Protestwahlen. Das ist normal. Aber es gibt ein neues Problem: Das eine Thema, bei dem Europa für Wähler wichtig geworden ist, ist die Makroökonomie. Für Österreich und Deutschland funktioniert die EU-Wirtschaftspolitik, für Spanien und Italien nicht. Die Menschen dort haben jetzt einen legitimen Grund, gegen Europa zu sein.

Standard: Aber die Eurokrise hat sich doch seit 2012 beruhigt?

Moravcsik: Das ist keine echte Entspannung. Selbst Optimisten erwarten, dass die Rezession in Südeuropa zehn bis 15 Jahre anhalten wird. Niemand behauptet ernsthaft, dass die existierenden Schuldenberge nachhaltig bewältigt werden können oder dass Italiens Wirtschaft gesund ist. Die Länder klammern sich an den Euro nur, weil sie die kurzfristigen Kosten der Alternativen fürchten. Diese sind eine Verkleinerung der Eurozone, ein massiver Finanztransfer vom Norden in den Süden oder eine drastische Veränderung der Wirtschaftspolitik im Norden. Wenn nichts davon geschieht, dann gibt es ein Szenario wie in Japan.

Standard: Die EU will, dass sich die Wirtschaft im Süden ändert.

Moravcsik: Das kann nicht gelingen. Italien wird nicht wie Deutschland werden.

Standard: Wäre ein Euro-Austritt Italiens und Spaniens nicht der Anfang vom Ende Europas?

Moravcsik: Nein, es wäre ein Schritt zur Stärkung der EU. Der Euro gefährdet das Projekt Europa, das überall anderswo so erfolgreich war. Beispiel Ukraine: Wirtschaftlich und kulturell hat Europa dort Russland besiegt. Der einzige Fehlschlag ist die Wirtschaftspolitik in der Eurozone, und der macht alle anderen Erfolge zunichte.

Standard: Aber sehr erfolgreich ist die EU in der Ukraine nicht. Wladimir Putin macht, was er will.

Moravcsik: Putin verteidigt sich nur, versucht zum Status quo von 2013 zurückzukehren. Europa hat durch seinen Ruf und seine Mobilisierungskraft den Aufstand auf dem Maidan ausgelöst. Jetzt liegt Putin im Rückstand und versucht seinen Verlust wieder gutzumachen. Die EU hat einen großen Sieg davongetragen, jetzt muss sie diesen absichern.

Standard: Wie soll das geschehen?

Moravcsik: Das Wichtigste wäre, die Wirtschaft der Ukraine zu stabilisieren. Finanzhilfen, Handelsabkommen und Investitionen sind die stärkste politische Währung. Russland und die EU haben hier etwas zu bieten. Das ist ein Kampf, den die EU suchen soll, denn sie kann ihn gewinnen.

Standard: Zurück zur EU-Politik: Wie groß ist denn das demokratische Defizit in der Union?

Moravcsik: Das ist kein wirkliches Problem, denn die Gesetzgebung der EU wird genauso demokratisch kontrolliert wie in jedem Mitgliedsstaat. Das einzige Defizit liegt in der Eurozone, denn dort gibt es eine politisch unabhängige Zentralbank, die sich nur um Preisstabilität kümmert - egal, was die Menschen wollen.

Standard: Die EU-Wahl wird als Stärkung der Demokratie gesehen, weil der Kommissionspräsident durch sie bestimmt werden soll.

Moravcsik: Ich halte das für einen Fehler. Das sind Protestwahlen; die Wähler stimmen nicht für, sondern gegen etwas. Und da Europathemen gar keine Rolle spielen, verstärkt sich der Effekt einer nicht-repräsentativen Abstimmung. Wenn man Europa demokratischer gestalten will, soll man dafür sorgen, dass EU-Themen zu Hause eine größere Rolle spielen, etwa durch Einbindung der Parlamente. Aber auch die Parlamentarier interessieren sich kaum dafür, was in Brüssel geschieht.

Standard: Deswegen soll ja das Europaparlament gestärkt werden.

Moravcsik: Das ist nicht notwendig. Es gibt durch nationalen Regierungen genug demokratische Kontrolle über die EU. Wenn die Wähler Änderungen wollen, können sie ihre Regierungen abwählen. Aber sie kümmern sich nicht um Europathemen, und daran lässt sich nichts ändern - auch nicht durch den Versuch eines EU-weiten Wahlkampfes. Das war ein völliger Fehlschlag. In der politischen Realität haben wir dann Demokratie, wenn Menschen ihre Energie dazu verwenden, sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Das hat schon beim EU-Verfassungskonvent nicht funktioniert.

Standard: Wie soll der Kommissionspräsident gewählt werden?

Moravcsik: Ich glaube, dass eine Entscheidung durch demokratisch gewählte Regierungen stärker die wahren Präferenzen der Bürger widerspiegelt, als wenn das Parlament es tut. Selbst Deutschland, das sich immer für das Europaparlament starkgemacht hat, unterstützt es hier nicht. Die Wähler stimmen gegen das, was sie wirklich wollen: Man lässt die Proteststimmen die demokratische Vertretung Europas wählen. (DER STANDARD, 24.5.2014)