Eine vergilbte Karte im fiktiven Museum von Thomas Bellinck zeigt die EU in ihrer größten Ausdehnung: Als letzte neue Mitgliedsstaaten sind Schottland und die Westukraine mit Beitrittsjahr 2017 eingezeichnet. Weißrussland hat zu existieren aufgehört.

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Thomas Bellinck.

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STANDARD: Bei den Wiener Festwochen präsentieren Sie "Das Haus der europäischen Geschichte im Exil". Wie kamen Sie als Theaterregisseur auf die Idee, eine Ausstellung über das fiktive Scheitern der EU zu inszenieren?

Bellinck: Die KVS, die königlich-flämische Schaubühne in Brüssel, fragte mich, ob ich ein Stück über Jean Monnet, einen der Gründerväter der EU, machen will. Ich habe lange darüber nachgedacht - und kam zur Überzeugung, dass es heute wichtiger ist, über das Ende zu reden als über den Anfang. Ich las zum Beispiel In Europa. Eine Reise durch das 20. Jahrhundert von Geert Mak aus dem Jahr 2004. Ein superspannendes Buch. Mak recherchierte auch in Wien und stellte fest, dass in den österreichischen Medien 1914 sehr viel über das Begräbnis des ermordeten Thronfolgers Franz Ferdinand berichtet wurde, aber fast nichts über den kommenden Krieg. Er meint, dass wir uns heute wieder in einer solchen historischen Situation befinden - und das nicht realisieren. Ich glaube, das stimmt. Denn wir haben keine Distanz zur Gegenwart. Daher wollte ich eine Distanz aufbauen, um die Gegenwart anders zu sehen können. So bin ich auf die Idee eines fiktiven Museums gekommen, das nach der Implosion der EU als Einziges übrig bleibt.

STANDARD: Ist Ihre Ausstellung, die 2013 zunächst in Brüssel zu sehen war, eine Art Warnung?

Bellinck: Ja. Ich bin zwar kritisch, aber ich bin europäisch. Ich wollte mit der Ausstellung ein Gefühl von Nostalgie kreieren. Ein Gefühl, das man normalerweise für etwas hat, das verschwunden ist. Damit sich die Menschen überlegen können, wie es wäre, wenn es die EU nicht mehr geben sollte.

STANDARD: Eine Warnung an die Politik - oder an die Bürger?

Bellinck: An alle. Wir haben am Sonntag Europawahl. Aber kaum einer kennt die europäischen Fraktionen und deren Programme. Man wählt, obwohl es um Europa geht, sehr lokal. Darüber sollte man nachdenken. Manche nationalen Politiker geben uns das Gefühl, die EU sei eine abstrakte Maschine, die Entscheidungen trifft, auf die wir keinen Einfluss haben. Das stimmt so nicht. Wir haben dieses geeinte Europa geschaffen, diese Maschine kreiert. Leider haben wir vergessen, wie sie funktioniert. Ich will den Besuchern sagen: "Das ist eure Maschine! Denkt darüber nach! Denn nur wenn ihr wisst, wie sie funktioniert, könnt Ihr sie andern!"

STANDARD: Die Maschine ist komplex. Sie thematisieren den Lobbyismus, die Verordnungen und Versäumnisse. Hinzu kommt das Bekenntnis zum Kompromiss. Führt es tatsächlich zum Stillstand?

Bellinck: An sich ist es gut, dass man sich nicht mehr auf dem Schlachtfeld gegenübersteht, sondern an einem Tisch sitzt - und dass man so lange redet, bis es eine Lösung gibt. Ich verteidige daher den Kompromiss. Andererseits braucht es sehr lange, bis eine Entscheidung gefällt wird. Leider gibt es heute Parteien, die sagen: "Wir machen keine Kompromisse!" Das ist erschreckend. Ich sehe auch aus Angst geschlossene Kompromisse kritisch. Die EU hat zum Beispiel keine offizielle Fahne, denn die nationalen Symbole sollen wichtiger sein. Es gibt daher nur ein Logo. Aber es darf auch auf Stoff gedruckt werden - und ist dann eigentlich eine Fahne.

STANDARD: Unterliegt die europäische Idee dem Nationalismus?

Bellinck: Nach dem Zweiten Weltkrieg glaubte man, dass der Nationalismus verschwinden wird. Aber jetzt kehrt er wieder. Die europäische Identität ist für viele etwas Fremdes. Etwas, das von oben diktiert wird. Nationalismus hingegen sieht man als etwas Organisches an. Man hat vergessen, dass auch die nationalen Identitäten Konstruktionen sind, sie existieren erst seit ein paar Jahrhunderten. Österreich ist genauso eine Konstruktion wie Belgien.

STANDARD: In Österreich gibt es derzeit aber keinen Separatismus.

Bellinck: Meine Eltern sind Flamen. Ihre Generation musste um Grundrechte kämpfen, zum Beispiel um einen Unterricht in der eigenen Sprache. Ich verstehe daher, dass sie ein Nationalgefühl haben. Nationalismus und Separatismus sind, wenn eine Minderheit unterdrückt wird, ein notwendiges Instrument, um sich zu befreien. Damit bin ich einverstanden. Aber der Streit ist ausgefochten. Als ursprünglich niederländisch sprechender Belgier habe ich nie das Gefühl, dass ich unterdrückt werde. Dennoch setzt man weiter auf diese Themen. Mir macht Angst, dass der Nationalismus immer extremer wird.

STANDARD: Auf einer Karte ist die EU in ihrer größten Ausdehnung zu sehen: Als letzte Mitgliedsstaaten werden 2017 Schottland, das sich von Großbritannien losgelöst hat, und die Westukraine, ein Rumpfstaat ohne Meerzugang, aufgenommen. Haben Sie die Entwicklung in der Ukraine geahnt?

Bellinck: Nein. Der US-Amerikaner George Friedman schrieb 2009 in seinem Buch Die nächsten hundert Jahre, dass Russland etwa im Jahr 2015 die Ukraine und danach Weißrussland annektieren werde. Ich fand das hochinteressant, aber vor einem Jahr noch völlig unglaubwürdig. Mein Museum ist zwar fiktiv, aber die dargestellten Szenarien sollten zumindest möglich sein. Daher ließ ich die Ukraine bestehen. Erst für Wien habe ich die Karte aktualisiert. Auf ihr gibt es Weißrussland nicht mehr.

STANDARD: Die Ausstellung endet mit einer Selbstmordwelle.

Bellinck: Man berichtet darüber nicht, um Nachahmer zu verhindern. Aber die Zahl der Selbstmorde ist aufgrund der Finanzkrise signifikant gestiegen.

STANDARD: Warum ein so deprimierender Schluss?

Bellinck: Heuer erinnert man an den Ersten Weltkrieg. Flandern vermarktet sich als "Friedensregion" - obwohl Belgien einer der größten Schusswaffenexporteure in Europa ist. Das ist paradox. Man sagt immer: "Nie wieder Krieg!" Das hoffe ich auch. Aber was wäre, wenn es wirklich wieder einen Krieg gäbe? Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie Krieg ist. Wir müssen über Krieg reden, um dafür zu sorgen, dass es keinen Krieg gibt. Das wollte ich mit dem Museum. (Thomas Trenkler, DER STANDARD, 24./25.5.2014)