Eine Justiz, die nur verwahre statt Häftlinge therapeutisch zu betreuen, sei "einfältig" und sogar "dumm", sagt Psychiater Patrick Frottier.

Foto: Heribert Corn

STANDARD: Sie haben lange die Sonderanstalt Mittersteig in Wien ärztlich geleitet. Warum sind Sie aus dem Justizdienst ausgeschieden?

Frottier: Zum einen, weil es für mich mehrere unendlich spannende, neue berufliche Herausforderungen gab; die Mitorganisation des Liaisondienstes Kinder- Jugendpsychiatrie für alle Krisenzentren der Stadt Wien, den ich heute koordiniere, den konzeptionellen Entwurf und die psychiatrische Tätigkeit in einer sozialpsychiatrischen Wohngemeinschaft für sozial und psychisch hochgefährdete Jugendliche und die Gründung des Instituts moment, einer Drehscheibe für forensische Begutachtung und Therapie.

Zum anderen: Ich war von 1995 bis 2009 im Justizbereich als therapeutisch arbeitender Arzt tätig – in verschiedenen forensischen Abteilungen und Gefängnissen, in der forensischen Nachbetreuungsambulanz und zuletzt als ärztlicher Leiter am Mittersteig beziehungsweise als Koordinator des  österreichischen Maßnahmenvollzugs nach § 21/2 . Im Laufe dieser langen Zeit konnte ich feststellen, dass den Verantwortlichen der verwahrende Sicherheitsaspekt innerhalb der Justizanstalten zunehmend wichtiger war als der soziale Sicherheitsaspekt.

STANDARD: Was heißt das?

Frottier: Das heißt therapeutischer Ansatz mit dem Ziel der Resozialisierung. Ich habe bei meinem Abschied ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Insassen noch deutlich vermehrt ärztlich-therapeutisch behandelt werden sollten und diese Behandlung vor allem regelmäßig evaluiert werden muss. Nicht nur aus humanitären Gründen, sonder auch weil die Justiz sonst mit Problemen konfrontiert werden wird, die sie alleine keinesfalls bewältigen kann. Insofern hat mich die jetzt aufgekommene Geschichte nicht ganz überrascht. Überrascht hat mich allerdings das Ausmaß der Vernachlässigung des alten Mannes in Stein.

STANDARD: Seit wann ist dieser Sicherungs- und Verwahrungsgedanke im Justizvollzug so präsent?

Frottier: Ich würde das mit Anfang des neuen Jahrtausends festmachen.

STANDARD: Was genau ist so schlimm?

Frottier: Sie haben in der Justiz zwei große Baustellen: den Jugendvollzug, welcher, wie wir vor Monaten erfahren mussten, eher konzeptlos ist, und den Maßnahmenvollzug.

STANDARD: Woran hakt es?

Frottier: An fehlender Qualitätskontrolle. Es gibt keine Evaluation der Therapien bzw. keine adäquate, das heißt ausreichende, Behandlung von Häftlingen mit psychischen Problemen. Dabei sind die mehr als 800 Personen, die im Maßnahmenvollzug sind, nur die Spitze des Eisberges. Rund ein Viertel aller 8273 Häftlinge bräuchte psychologische oder/und psychiatrische Behandlung unter ärztlichen Rahmenbedingungen und ärztliche Kontrolle. Veränderungen sind jedoch kaum möglich, wenn standespolitische Überlegungen vor fachlicher Expertise den Vorrang haben.

STANDARD: Ein großes Problem, so hört man, sei auch, dass es immer weniger Sozialtherapeuten in den Gefängnissen gebe...

Frottier: Sozialtherapeuten oder Sozialpädagogen gibt es nicht wirklich, auch wenn seit langem gefordert wird, diese einzustellen. Personelle Ressourcen werden im Bereich der Vollzugsbeamten wiederholt vermehrt, im therapeutischen Bereich wird jedoch dem rasanten Zuwachs psychisch kranker Rechtsbrecher nicht ausreichend Rechnung getragen.

STANDARD: Warum ist der therapeutische Ansatz so wichtig?

Frottier: Weil ohne Therapie wenig Chancen auf eine  nachhaltige Resozialisierung besteht. Eine Straftat ist vorerst ein psychologisches Phänomen, kein juristisches. Sie sehen es besonders im Jugendvollzug mit einer Rückfallquote von über 70 Prozent innerhalb von fünf Jahren. Ich sage nicht grundsätzlich, dass jugendliche Straftäter nicht ins Gefängnis sollen – im Gegenteil: Das Gefängnis kann integraler Teil einer Behandlung sein, die sowohl außerhalb als auch innerhalb der Mauern angeboten wird. Ein Gefängnis kann Grenzen, das heißt eine Struktur geben, die der oder die Jugendliche selbst nicht hat. Aber so ein Gefängnis muss geführt werden wie eine Institution der Jugendwohlfahrt, das heißt mit vielen Soziapädagogen und nicht mit dafür nicht ausgebildeter Justizwache: Nur dann kann es Erfolge geben. Im behandlungsorientierten Maßnahmenvollzug sind Rückfälle deutlich seltener als im Normalvollzug.

STANDARD: Viel war in den letzten Tagen davon die Rede, dass der Umgang mit psychisch kranken Häftlingen in Deutschland besser sei. Sehen Sie das auch so?

Frottier: Geistig abnorme Rechtsbrecher, welche nicht zurechnungsfähig sind, werden in Deutschland ausschließlich im Krankenhaus behandelt – und das finde ich auch richtig so. Das Gesundheitssystem ist hier genauso gefordert – es den Justizanstalten zu überlassen, heißt sie zu überfordern. Dazu kommt noch, dass bei uns viele Störungs- und Krankheitsbilder vermischt werden.

STANDARD: Was bedeutet das?

Frottier: Es gibt drei große Bereiche im Maßnahmenvollzug: Da sind einerseits die nicht zurechnungsfähigen psychisch Kranken. Die gehören eigentlich nicht ins Gefängnis, da sie im Grunde nicht schuldfähig sind. Sie bleiben deshalb viel zu lange im Maßnahmenvollzug, weil es draußen keine adäquaten Einrichtungen für sie gibt. Dann gibt es die Sicherungsverwahrung – das heißt, wenn man jemand, "zur Sicherheit" - möglicherweise lebenslang - im Gefängnis behält und zwar so lange er als gefährlich eingeschätzt wird. Diese Menschen brauchen ganz andere Formen der Therapie. Zuletzt gibt es jene, die psychisch auffällig, aber zurechnungsfähig sind, die wiederum anders behandelt werden sollten. Die Grenzen sind fließend, und die Unterbringung in eine Maßnahme wird von RichterInnen sicher zu oft,  auch zu leichtfertig  und unreflektiert verhängt.

STANDARD: Kritik kommt auch an der Qualität der Gutachten. Die seien oft zu schwammig und ließen zu viel Interpretation zu. Sehen Sie das auch so?

Frottier: Zunächst einmal sind die psychiatrischen Gutachten hierzulande schlecht bezahlt. Dadurch haben sie zu wenige gut qualifizierte forensische GutachterInnen, die vielleicht nicht ganz selten qualitativ mangelhafte Gutachten erstellen. Die forensisch-psychiatrischen Gutachten werden jedoch dann immer häufiger durch psychologische Gutachten ersetzt, welche nicht geeignet sind adäquate psychiatrische Diagnosen zu stellen bzw. entsprechende Behandlungsempfehlungen abzugeben. Psychologisch auffällig bedeutet eine ausreichend große Abweichung einer Mehrheitsnorm, aber noch lange nicht  eine krankheitswertige Störung.

Es braucht neben dem Leidensdruck eine klinisch fassbare Symptomatik, welche keinesfalls durch Tests feststellbar ist. Das braucht mehrjährige forensisch-psychiatrische Erfahrung, klinisch fundiertes Wissen und psychiatrische Behandlungskompetenz, das ist ureigenste ärztliche Tätigkeit. Jeder von uns könnte ein schweres Delikt begehen, wenn wir uns in entsprechenden Umständen wiederfinden, ohne dass wir deshalb gestört sein müssen. Abweichendes Verhalten heißt nur in der Ausnahme psychisch krank. Eine Justiz, die den Sicherheitsaspekt vernachlässigt ist ohne Zweifel blind. Wenn sie jedoch den sozialtherapeutischen bzw. den psychiatrischen Ansatz vernachlässigt oder gar vergisst, darf sie als einfältig, vielleicht sogar als dumm bezeichnet werden. (Petra Stuiber, Der Standard, 24.5.2014)