Hohe gesangliche und darstellerische Energie: Jennifer Yoon als Pretty Polly und Richard Rittelmann als Punch.

Foto: Armin Bardel

Wien - In jedem Menschen steckt ein Mörder. Wer etwa als treuer Fahrgast der Wiener Linien täglich in Niederflurgarnituren zu steigen hat, die beim Beschleunigen und Bremsen Geräusche von sich geben, als ob eine Herde Schweine abgestochen wird, und die rumpeln, als ob sie ungefedert über einen Steinacker brettern, in dem keimen solch schwarze Gedanken, dem Konstrukteur wie auch dem Besteller dieser grauen Geisterbahnen gegenüber.

Stellvertretend für das Böse im Menschen murkst auch Punch liebend gerne Lebewesen ab: sein Kind, seine Frau - eigentlich fast jeden, der ihm in dem von Librettist Stephen Pruslin angelegten Handlungsweg in die Quere kommt. Punch ist der britische Hanswurst, aber mit der freudvollen Gewaltbereitschaft des großen Sadomasopärchens Itchy & Scratchy aus den Simpsons als Emotionshintergrund.

Das ständige Morden der Hauptfigur fällt in der Aufführung von Harrison Birtwistles Opernerstling Punch and Judy an der Kammeroper aber gar nicht auf. Alles so drastisch und schräg in dieser Produktion der Neuen Oper Wien, auf der Bühne wie im Orchestergraben. Der 1968 uraufgeführte Einakter des in den Adelsstand erhobenen Komponisten klingt ein bisschen wie Anton Webern auf Speed: Die Holzbläser quietschen hysterisch in tinnitusnahen Frequenzen herum, Dissonanzen sind obligatorisch, Harmonien verboten. Gleichzeitig begeben sich die Vokallinien der Sänger begeistert auf Achterbahnfahrt, wieder und wieder.

Birtwistle komponiert klug und mit großem Wissen um die Geschichte, aber es klingt meist wie Hölle. Benjamin Britten, mit seiner English Opera Group Auftraggeber dieser "tragischen Komödie oder komischen Tragödie", soll bei der Premiere beim Aldeburgh Festival not amused gewesen sein. Man kann es verstehen. Das exzellente Ensemble singt unter der Leitung von NOW-Chef Walter Kobéra und mit dem Amadeus- Ensemble-Wien meist volle Kanne - das müssen sie selber und das Publikum erst einmal aushalten.

Leonard Prinsloo fordert sie auf szenischer Ebene ebenfalls: Da geht im schwarz-grauen Untergrundambiente (Bühne und fantastische Kostüme: Monika Biegler) die Post ab. Im Vergleich dazu setzen Johnny Depp und Co im Fluch der Karibik darstellerisch auf Understatement. Hut ab vor der Energieleistung des darstellenden Personals: Richard Rittelmann als überdrehter Punch, Manuela Leonhartsberger als beutelbusige Judy, Till von Orlowsky als Geschichtserzähler Choregos, Lorin Wey und Johannes Schwendinger als Lawyer und Doctor. Und ein Extraschmatzerl für Jennifer Yoon als Carmen-Geiss-nahe Barbiepuppe Pretty Polly.

Aber obwohl sich Szene wie Musik auf hohem Niveau non- stop abstrudeln, zeitigt all die Exaltiertheit und Dauerdrastik nur wenig belebende Wirkung auf das Publikum, im Gegenteil: Man sitzt und leidet. Nach eindreiviertel Stunden endet alles in vorherhörbarem Premierenjubel. Never believe. (Stefan Ender, DER STANDARD, 24./25.5.2014)