Wien - Ein kleiner Boxer in buntem Mantel mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze schiebt das Publikum ins Theater. Wer glaubt, dass diese Gestalt bleibt, was sie zu sein scheint, wird eine Überraschung erleben. Denn die Choreografin und Tänzerin Marlene Monteiro Freitas verkörpert in ihrem Solo Guintche, das die Festwochen im Brut-Theater Künstlerhaus präsentieren, eine exzessiv wandelbare Figur.

Auf der Bühne - einziges Requisit: ein großer Punchingball - lässt Freitas die Mantelhülle fallen, stellt sich hoch aufgerichtet ins Zentrum und starrt mit aufgerissenen Augen in die Zuschauerreihen. Barfuß, blaues Haar, rote Bluse, lila Federboa um die zu Schlagzeugrhythmen kreisenden Hüften, krallenhafte Handschuhe, aufgeblähte Mundpartie.

Hier steht jemand, der einem veritablen Verfolgungstraum entwichen sein könnte: ein Guintche, was im Kreolischen einen Vogel, eine Prostituierte oder eine Person bezeichnet, deren Lebensgestaltung sehr flexibel ist. Sobald Guintche ihren Mund öffnet, wird ein zweites Lippenpaar sichtbar, das sich nach außen schiebt, bis es den Mund überdeckt. Das erinnert an die künstlichen Lippen des australisch-britischen Künstlers Leigh Bowery. Auf ihn bezieht sich Freitas nicht ausdrücklich. Wohl aber auf die verzerrten Gesichter-Skulpturen des Bildhauers Franz Xaver Messerschmidt (1736-1783) oder auf Jean Rouchs Film Les Maîtres fous (1955).

Die künstlichen Lippen werden zur Zunge und zum Kaugummi. Speichel tropft. Das Mienenspiel wechselt von Heiterkeit zu Boshaftigkeit und Verzweiflung. Dieses Wesen kommt dem Publikum sehr nahe. Es schnüffelt seinen Geruch und lockt mit weit aufgerissenem Mund.

Tanz, Pantomime und einzelne Yoga-Figuren wechseln einander in permanenter Transformation ab. Hier führt Marlene Monteiro Freitas eine Form von Queerness vor, die über das geschlechterbezogene Stereotyp hinausgeht, auf das dieser Begriff oft reduziert wird. Die Guintche-Gestalt ist genauso Mensch mit weiblicher Dominanz wie Tier, Dämon und Kunstfigur. Außerdem verkörpert sie Symbole aus unterschiedlichen Kulturen inklusive der Popkultur.

So stellt Guintche ein absolut zeitgemäßes Statement der 1979 auf den Kapverden geborenen Künstlerin dar. Sie ist seit ihrer Kooperation mit Cecilia Bengolea und François Chaignaud in Trajal Harrells Stück (M)imosa, das 2011 und 2012 bei Impulstanz zu sehen war, auch in Wien ein Begriff. (Helmut Ploebst, DER STANDARD, 24.5.2014)