Was mögen sich Menschen auf anderen Kontinenten denken, wenn sie dieser Tage auf Europa schauen, wo bis Sonntag die Wahlen zum Europäischen Parlament abgehalten werden? In vielen Ländern - nicht nur im Bürgerkriegsland Syrien oder in Nigeria oder in Thailand, wo ein Putsch stattfindet - werden sie sich vermutlich an den Kopf greifen. Und sich wundern, wie viele Negativthemen, wie viel prinzipieller Selbstzweifel den Wahlkampf zur Bestellung des Parlaments in einer Union dominiert, von der sie selbst nur träumen können.

Denn im globalen Vergleich hat die Gemeinschaft - trotz Superkrise seit fünf Jahren - noch immer ein ziemlich hohes Maß an (sozialer) Sicherheit, an bürgerlicher Freiheit, an Wohlstand und Rechtsstaatlichkeit sicherstellen können. Die extrem hohe Arbeitslosigkeit in einigen EU-Staaten, die ihre Wirtschaft durch Korruption und falsche Politik fast an die Wand fuhren, ist bitter. Das ändert am Befund aber wenig. Und man sollte auch nicht übersehen, dass es seit 2008 eben gerade die Solidarität der Mitgliedsstaaten der Union untereinander war, die noch Schlimmeres verhindert hat. Ohne den europäischen Zusammenhalt wären Griechenland und Portugal heute bankrott - Failed States - und noch weniger souverän.

Auch in der unmittelbaren Nachbarschaft, in der Ukraine, kann man von so etwas nur träumen. Fast ironisch: Auch dort wird am 25. Mai gewählt. Die entscheidende Frage wird für die Ukrainer aber nicht sein, ob sie gelangweilt die Wahlsendungen im Fernsehen anschauen oder doch zum Sonntagskrimi rüberzappen, wie in den meisten westeuropäischen Ländern üblich. Für sie entscheidet sich, ob es eine Chance für die Demokratie gibt, ob es Frieden gibt oder Zerfall.

Im EU-Teil Europas hingegen steht nach einem relativ schwachen und kurzen Wahlkampf in den 28 Mitgliedsstaaten eines fest, so unterschiedlich sie im Einzelnen auch ticken: Die Union steckt in einer tiefen Demokratiekrise. Hier scheint bei den Bürgern die Devise zu gelten: Können wir die ohnehin bescheidene Wahlbeteiligung noch ein bisschen weiter nach unten drücken? Die ersten Trends in den Niederlanden und in Großbritannien verheißen nichts Gutes. Das wird die Legitimation der Gemeinschaftspolitik noch weiter untergraben. Darin liegt ein großes Aufklärungsversagen von Regierungen und EU-Führung.

Der zweite große Trend ist ebenso eindeutig, und nur ganz wenige Länder (wie Luxemburg, Niederlande, Belgien oder Portugal) sind davon ausgenommen: Die Populisten und die Extremparteien sind im Aufwind, im rechten politischen Spektrum stärker als bei den Linksextremen. Das liegt vor allem daran, dass sich eine Methode in einer immer komplexer werdenden Welt offenbar spielend durchsetzt: die Verschwörungstheorie. Schuld an der Krise und der Misere der Menschen sind angeblich immer nur die großen Einheiten; also "die EU", nicht aber der Nationalstaat. Verantwortlich für Ausbeutung sind Konzerne, nicht aber die vielen kleinen Betriebe, die Europas Wirtschaft ausmachen.

Schuld an allem seien ungreifbare Entscheidungsträger "in Brüssel", insbesondere der EU-Kommission, nicht aber die Regierungschefs (die in Wahrheit noch immer fast alle wichtigen Entscheidungen treffen). Daher wäre es wichtig, wenn die Wahl des Kommissionspräsidenten diesmal anders verläuft und der Wahlsieger auch zum Zug kommt, vom Parlament gewählt.  (Thomas Mayer, DER STANDARD, 23.5.2014)